Carina Brauer steht nicht weit vom Nürnberger Hauptbahnhof und verteilt Fixerbesteck. Sie trägt Strickmütze, Windjacke, Sneakers – und einen blauen Rucksack. Darin: eine Plastiktüte voller Spritzen, Nadeln, Ascorbinsäure, Döschen mit sauberem Wasser. „Hi Carina, hast du Besteck für mich?“ Immer wieder kommen junge Männer und ab und an eine Frau auf sie zu. Carina Brauer öffnet dann den Rucksack, fragt „wie geht’s dir denn?“, während sie drei Spritzen, drei Filter, drei Kanülen abzählt. Soviel bekommt jeder an der Königstorpassage kostenlos.
„Rattenpfuhl“ wird der Ort genannt, an dem Carina Brauer immer mittwochs mit ihrem Rucksack unterwegs ist. Irgendwann sollen einmal ein paar Nagetiere im Brunnen neben der Passage ertrunken sein, daher der Name. Am Rand der Stadtmauer trifft sich der Rand der Gesellschaft: Männer und Frauen, die meisten zwischen 30 und 50. Das ist die Nürnberger Drogenszene, hier finden sich Dealer und Käufer. Einigen sieht man an, dass ihre Sucht sie auszehrt, andere könnte man für vorbeilaufende Passanten halten. Mitten durch die Grüppchen hindurch gehen Touristen, die in die Altstadt oder ins Bratwursthäusle wollen.
Die 34 Jahre alte Carina Brauer kennt die Drogenszene. Sie hat selbst viele Jahre lang konsumiert: Sie ist 16, als sie mit Speed, Ecstasy und LSD ihre Wochenenden in Techno-Clubs durchtanzt, ohne müde zu werden. Sie ist 18 oder 19, als sie zum ersten Mal eine Frau beobachtet, die auf der Toilette Crystal Meth schnieft. „Die hatte Pupillen groß wie Teller“, erzählt Carina Brauer. „Das hat mich heißgemacht, das wollte ich auch.“ Sie kauft ein erstes Tütchen der eisfarbenen Kristalle – und will nicht mehr aufhören. Was dann beginnt, nennt sie „relativ klassisch“: Sie und ihr Freund verkaufen ein bisschen was weiter, werden erwischt, Prozess, zwei Jahre auf Bewährung. „Ich bin vorbestraft“, sagt sie nüchtern. Ihre Geschichte nimmt danach jedoch eine Wendung, die Carina Brauer Schritt für Schritt auf die andere Seite der Szene bringt: Die junge Floristin macht eine Therapie. Sie befreit sich aus den Klauen der Sucht und entscheidet sich dafür, anderen Süchtigen zu helfen. Sie studiert Soziale Arbeit an der evangelischen Fachhochschule Nürnberg, kommt in Kontakt mit der Drogenhilfe. Seit zwei Jahren arbeitet Carina Brauer hier bei mudra, Verein für alternative Jugend- und Drogenhilfe.
Ein Mann spritzt sich Heroin. Jugendliche Drogenkonsumenten greifen jedoch vermehrt zur aufputschenden Droge Crystal Meth.
1980 gegründet von Studenten und ehemaligen Süchtigen, vertritt der Verein bis heute die Philosophie, dass Drogenhilfe nicht bevormunden, sondern Hilfesuchenden die Hand reichen soll. Hier gehört es zum Konzept, dass ehemalige Süchtige mit Sozialpädagogen im Team zusammenarbeiten. Das macht den Verein zu etwas Besonderem in der häufig restriktiven und konservativen bayerischen Drogenarbeit.
Carina Brauer, die Crystal schnupfte, statt Heroin zu spritzen, steht bei mudra in gewisser Weise für eine neue Generation von Drogenkonsum. Auch wenn Heroin immer noch die häufigste Todesursache unter Drogenabhängigen ist: Crystal kommt. Waren die Kristalle vor zehn Jahren noch relativ neu in der Szene, überflutet heute gerade tschechisches Crystal Meth vor allem Nord- und Ostbayern – und ist immer stärker auf dem Vormarsch (siehe unten). Im Jahr 2012 probierten erstmals mehr Leute Crystal aus als Heroin. Leistungsstark, ohne Selbstzweifel, kein Schlaf mehr nötig – das bewirkt Crystal und passt damit gut in die Leistungsgesellschaft. Und wird dementsprechend in allen Bevölkerungsschichten konsumiert. Als sogenannter Beikonsum, als zusätzliche Droge zum Heroin, erfasst es Schritt für Schritt auch die Szene.
Auch Micha, der an diesem Vormittag am Rattenpfuhl in der Kälte steht, kauft inzwischen Crystal. Er sagt, er sei 50, sieht aber jünger aus. Seit vielen Jahren ist Micha heroinabhängig. Crystal nimmt er, „um wieder runterzukommen“, wie er sagt. Ein gängiges Schema unter Heroinabhängigen. „Teufelszeug“, knurrt Micha. „Mir hat’s den Kopf weggehauen beim ersten Mal – es müsste viel mehr Aufklärungsarbeit über die Wirkung geben.“ Erst habe die Wirkung „geknallt“, dann hätten die Horrortrips begonnen, Paranoia, Leere. Lieber als am Rattenpfuhl trifft er Carina Brauer und Johanna Happach, die mittwochs immer gemeinsam zur Streetwork an die Königstorpassage gehen, in den Räumen von mudra. Im Kontaktladen, wo er ebenfalls Fixerbesteck, aber auch Tee oder warme Kleidung bekommt. Oder im Jobbüro, wo Christine Kuhn arbeitet. Wenn sie da sei, freue er sich, sagt er.
Christine Kuhn ist blond, dunkle Schminke, hohe Stiefel. Sie berät Abhängige und ehemalige Abhängige darin, wie sie vielleicht wieder eine Arbeit annehmen können. Das strukturiert das Leben, ist was zum Festhalten, auch wenn es erst mal ein Tagesjob ist, wie Micha ihn hat. 85feste Arbeitsplätze bietet mudra an, Ein-Euro-Jobs im Wald, in der Schmuckwerkstatt, in der Näherei. Wer viele Jahre nicht gearbeitet hat, muss sich wieder an diesen Alltag gewöhnen: morgens aufstehen, Aufgaben erfüllen, zuverlässig sein.
Christine Kuhn weiß das. Fast 20 Jahre lang spritzte sie selbst Heroin. Dass sie jetzt anderen in Notlagen helfen kann, hält sie selbst für ein Wunder. „Die Arbeit ist meine Lebensversicherung“, sagt sie. Jetzt rückfällig zu werden, wäre ihr unsagbar peinlich. Auch als Schutz davor erzählt sie offen davon, wie sie sich als 14-Jährige ihren ersten Schuss setzte: „Das war genau die Entspannung, die ich gesucht habe.“ Ein Schuss – dann sollte es 20 Jahre dauern, bis sie die Sucht besiegte.
Der Auslöser für den Ausstieg war Zorn. Zorn über die bürokratischen Hürden des Drogenersatzprogramms. Über die Scham, vor den Sprechstundenhilfen pinkeln zu müssen: Kuhn war jahrelang in einem Methadonprogramm – von einem auf den anderen Tag stieg sie aus. „Ich wollte nicht mehr“, sagt sie. Sie weiß, dass sie Glück hatte, dass sie den kalten Entzug schaffte und nicht in eine Alkoholsucht rutschte. Als sie kurz darauf schwanger wurde, versprach sie dem Baby, nicht rückfällig zu werden. Heute geht ihre Tochter in die Schule, Kuhn arbeitet seit ihrer Ausbildung in Akzeptierender Drogenarbeit bei mudra. „Der tägliche Umgang mit der Sucht lehrt mich Demut“, sagt sie. „Man denkt, man sei weg – aber es wird immer ein Kampf bleiben.“ Kuhn hat längst ihren Frieden gemacht mit ihrer Vergangenheit. Ihrer Meinung nach ist es die andere Art von Empathie, die sie für ihre Arbeit auszeichnet.
Carina Brauer nutzt ihre Erfahrungen vor allem, wenn sie Angehörige berät. Weil sie beide Seiten verstehen kann – die Süchtigen und die Hilflosen. Die Eltern, Partner, Kinder. Ihre Kollegin Johanna Happach findet die Frage, ob Carinas Vergangenheit in der Arbeit einen Unterschied mache, etwas seltsam. „Das macht gar keinen Unterschied“, sagt sie. „Das ist für mich einfach die Carina.“
„Rattenpfuhl“ wird der Ort genannt, an dem Carina Brauer immer mittwochs mit ihrem Rucksack unterwegs ist. Irgendwann sollen einmal ein paar Nagetiere im Brunnen neben der Passage ertrunken sein, daher der Name. Am Rand der Stadtmauer trifft sich der Rand der Gesellschaft: Männer und Frauen, die meisten zwischen 30 und 50. Das ist die Nürnberger Drogenszene, hier finden sich Dealer und Käufer. Einigen sieht man an, dass ihre Sucht sie auszehrt, andere könnte man für vorbeilaufende Passanten halten. Mitten durch die Grüppchen hindurch gehen Touristen, die in die Altstadt oder ins Bratwursthäusle wollen.
Die 34 Jahre alte Carina Brauer kennt die Drogenszene. Sie hat selbst viele Jahre lang konsumiert: Sie ist 16, als sie mit Speed, Ecstasy und LSD ihre Wochenenden in Techno-Clubs durchtanzt, ohne müde zu werden. Sie ist 18 oder 19, als sie zum ersten Mal eine Frau beobachtet, die auf der Toilette Crystal Meth schnieft. „Die hatte Pupillen groß wie Teller“, erzählt Carina Brauer. „Das hat mich heißgemacht, das wollte ich auch.“ Sie kauft ein erstes Tütchen der eisfarbenen Kristalle – und will nicht mehr aufhören. Was dann beginnt, nennt sie „relativ klassisch“: Sie und ihr Freund verkaufen ein bisschen was weiter, werden erwischt, Prozess, zwei Jahre auf Bewährung. „Ich bin vorbestraft“, sagt sie nüchtern. Ihre Geschichte nimmt danach jedoch eine Wendung, die Carina Brauer Schritt für Schritt auf die andere Seite der Szene bringt: Die junge Floristin macht eine Therapie. Sie befreit sich aus den Klauen der Sucht und entscheidet sich dafür, anderen Süchtigen zu helfen. Sie studiert Soziale Arbeit an der evangelischen Fachhochschule Nürnberg, kommt in Kontakt mit der Drogenhilfe. Seit zwei Jahren arbeitet Carina Brauer hier bei mudra, Verein für alternative Jugend- und Drogenhilfe.
Ein Mann spritzt sich Heroin. Jugendliche Drogenkonsumenten greifen jedoch vermehrt zur aufputschenden Droge Crystal Meth.
1980 gegründet von Studenten und ehemaligen Süchtigen, vertritt der Verein bis heute die Philosophie, dass Drogenhilfe nicht bevormunden, sondern Hilfesuchenden die Hand reichen soll. Hier gehört es zum Konzept, dass ehemalige Süchtige mit Sozialpädagogen im Team zusammenarbeiten. Das macht den Verein zu etwas Besonderem in der häufig restriktiven und konservativen bayerischen Drogenarbeit.
Carina Brauer, die Crystal schnupfte, statt Heroin zu spritzen, steht bei mudra in gewisser Weise für eine neue Generation von Drogenkonsum. Auch wenn Heroin immer noch die häufigste Todesursache unter Drogenabhängigen ist: Crystal kommt. Waren die Kristalle vor zehn Jahren noch relativ neu in der Szene, überflutet heute gerade tschechisches Crystal Meth vor allem Nord- und Ostbayern – und ist immer stärker auf dem Vormarsch (siehe unten). Im Jahr 2012 probierten erstmals mehr Leute Crystal aus als Heroin. Leistungsstark, ohne Selbstzweifel, kein Schlaf mehr nötig – das bewirkt Crystal und passt damit gut in die Leistungsgesellschaft. Und wird dementsprechend in allen Bevölkerungsschichten konsumiert. Als sogenannter Beikonsum, als zusätzliche Droge zum Heroin, erfasst es Schritt für Schritt auch die Szene.
Auch Micha, der an diesem Vormittag am Rattenpfuhl in der Kälte steht, kauft inzwischen Crystal. Er sagt, er sei 50, sieht aber jünger aus. Seit vielen Jahren ist Micha heroinabhängig. Crystal nimmt er, „um wieder runterzukommen“, wie er sagt. Ein gängiges Schema unter Heroinabhängigen. „Teufelszeug“, knurrt Micha. „Mir hat’s den Kopf weggehauen beim ersten Mal – es müsste viel mehr Aufklärungsarbeit über die Wirkung geben.“ Erst habe die Wirkung „geknallt“, dann hätten die Horrortrips begonnen, Paranoia, Leere. Lieber als am Rattenpfuhl trifft er Carina Brauer und Johanna Happach, die mittwochs immer gemeinsam zur Streetwork an die Königstorpassage gehen, in den Räumen von mudra. Im Kontaktladen, wo er ebenfalls Fixerbesteck, aber auch Tee oder warme Kleidung bekommt. Oder im Jobbüro, wo Christine Kuhn arbeitet. Wenn sie da sei, freue er sich, sagt er.
Christine Kuhn ist blond, dunkle Schminke, hohe Stiefel. Sie berät Abhängige und ehemalige Abhängige darin, wie sie vielleicht wieder eine Arbeit annehmen können. Das strukturiert das Leben, ist was zum Festhalten, auch wenn es erst mal ein Tagesjob ist, wie Micha ihn hat. 85feste Arbeitsplätze bietet mudra an, Ein-Euro-Jobs im Wald, in der Schmuckwerkstatt, in der Näherei. Wer viele Jahre nicht gearbeitet hat, muss sich wieder an diesen Alltag gewöhnen: morgens aufstehen, Aufgaben erfüllen, zuverlässig sein.
Christine Kuhn weiß das. Fast 20 Jahre lang spritzte sie selbst Heroin. Dass sie jetzt anderen in Notlagen helfen kann, hält sie selbst für ein Wunder. „Die Arbeit ist meine Lebensversicherung“, sagt sie. Jetzt rückfällig zu werden, wäre ihr unsagbar peinlich. Auch als Schutz davor erzählt sie offen davon, wie sie sich als 14-Jährige ihren ersten Schuss setzte: „Das war genau die Entspannung, die ich gesucht habe.“ Ein Schuss – dann sollte es 20 Jahre dauern, bis sie die Sucht besiegte.
Der Auslöser für den Ausstieg war Zorn. Zorn über die bürokratischen Hürden des Drogenersatzprogramms. Über die Scham, vor den Sprechstundenhilfen pinkeln zu müssen: Kuhn war jahrelang in einem Methadonprogramm – von einem auf den anderen Tag stieg sie aus. „Ich wollte nicht mehr“, sagt sie. Sie weiß, dass sie Glück hatte, dass sie den kalten Entzug schaffte und nicht in eine Alkoholsucht rutschte. Als sie kurz darauf schwanger wurde, versprach sie dem Baby, nicht rückfällig zu werden. Heute geht ihre Tochter in die Schule, Kuhn arbeitet seit ihrer Ausbildung in Akzeptierender Drogenarbeit bei mudra. „Der tägliche Umgang mit der Sucht lehrt mich Demut“, sagt sie. „Man denkt, man sei weg – aber es wird immer ein Kampf bleiben.“ Kuhn hat längst ihren Frieden gemacht mit ihrer Vergangenheit. Ihrer Meinung nach ist es die andere Art von Empathie, die sie für ihre Arbeit auszeichnet.
Carina Brauer nutzt ihre Erfahrungen vor allem, wenn sie Angehörige berät. Weil sie beide Seiten verstehen kann – die Süchtigen und die Hilflosen. Die Eltern, Partner, Kinder. Ihre Kollegin Johanna Happach findet die Frage, ob Carinas Vergangenheit in der Arbeit einen Unterschied mache, etwas seltsam. „Das macht gar keinen Unterschied“, sagt sie. „Das ist für mich einfach die Carina.“