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"Oma Gerti" vor Gericht

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„Danke“, sagt Gertrud F. als sie zur Tür reinkommt. „Danke, das ist zu viel der Ehre.“ Sie steht in einem überfüllten Saal des Amtsgerichts Wuppertal. Man kann davon ausgehen, dass sie in ihrem Leben noch nie so viel Aufmerksamkeit erfahren hat, und ihr Leben ist nun auch schon 87 Jahre lang. Fotografen stehen vor ihr, Teile einer Schulklasse, sehr tätowierte Männer mittleren Alters und wer sonst so Zeit hatte an diesem Donnerstagvormittag. Das sind nicht wenige. Sie wollen sehen und hören, was es mit Frau F. auf sich hat, die vielen Menschen im Land bereits als „Oma Gerti“ ein Begriff ist.

Die Erwartungen lassen sich grob gesagt in zwei Haltungen teilen, so weit man das aus den Gesprächen und dem Gemurmel raushören kann. Die einen wollen die Geschichte einer rüstigen Angeklagten hören, die es der Deutschen Bahn mal so richtig gezeigt hat. Innerhalb etwa eines Jahres war Gertrud F. ganze 22 Mal schwarzgefahren, dann wurde sie in U-Haft genommen, in der Justizvollzugsanstalt Gelsenkirchen. Knast wegen ein paar mal Schwarzfahren, bei denen piept’s wohl: So könnte man diese Haltung zusammenfassen.



Oma Getrud kommt vorerst wieder auf freien Fuß. Ein zweites Gutachten müsse klären, ob die 87-Jährige verhandlungs- und schuldfähig sei, so der zuständige Richter.

Die andere Hälfte der Zuschauer macht vor und während der Verhandlung deutlich, dass sie der Ansicht ist, das Recht auf eine Weihnachtsgeschichte mit ordnungsgemäßem Ausgang zu haben: dass also der deutsche Staat grundsätzlich keine so alten Menschen einsperren dürfe, schon gar nicht vor Heiligabend. Knast an Weihnachten und in dem Alter, bei denen piept’s wohl, so denkt die andere Hälfte der anwesenden Zuschauer.

„Ich bin gar nicht alt“, sagt nun aber Gertrud F., und der Saal beginnt zu ahnen, dass wohl eine ganz andere Geschichte erzählt werden wird. Von einer Frau, deren Verhalten so in den Gesetzen des Landes nicht vorgesehen ist. Auf die das System nicht vorbereitet ist. Es ist die Geschichte einer Frau, die wohl spätestens nach zehn Minuten alle im Raum gerne entlassen würden, was natürlich nicht geht, weil ja jeder seinen Job machen muss in diesem Land.

Frau F. ist schwarzgefahren, wohl jeden Tag, wahrscheinlich aber nicht aus bösem Willen, sondern weil sie einfach keine Wohnung mehr hat, aber nicht auf der Straße leben will – sondern auf der Schiene. Weil sie sich in ganz Nordrhein-Westfalen in den warmen Zug gesetzt hat, der halt gerade kam. Und irgendeiner kam immer.

Die Angeklagte würde das alles so wohl nie zugeben. Sie sagt: „Ich habe Freunde und Bekannte. Ich bin überall willkommen.“ Im Gerichtssaal sieht man keinen der Freunde und Bekannten. Man sieht eine alte Frau mit einem Haufen Notizen, auf denen sie herumkritzelt. Um die es mal heller wird und mal dunkler. „Selber dement“, sagt sie zum psychologischen Gutachter. „Ich höre Stimmen“, sagt sie zu sich selbst. Sie hat Theorien darüber entwickelt, dass Kanzlerin Angela Merkel sie abschieben wolle, nach Polen. Sie redet und gestikuliert und findet keine Ruhe. Der Staat will sie aber natürlich auch nicht in Ruhe lassen. Könnte ja jeder kommen.

Die Kontrolleure haben Gertrud F. erwischt und sie gemeldet, auch wenn man Mitleid hatte. Weil man ja selbst wieder von anderen Kontrolleuren kontrolliert wird. Es gab ein Aktenzeichen, es kam zu Prozessen, aber Frau F. kam nicht. Sie war an ihrer Meldeadresse nicht anzutreffen, saß irgendwo im Zug. Weil das so nicht geht, Fluchtgefahr auch im hohen Alter bestehen kann, wurde sie verhaftet und kam mit 87 Jahren in die Justizvollzugsanstalt in Gelsenkirchen. Bis ihr nun an diesem Donnerstag der Prozess gemacht wird.

Etwa fünf Minuten lang liest der Staatsanwalt vor, in welchen Zügen sie erwischt wurde, mit Zugnummer und Uhrzeit. Der Tatvorwurf lautet: Die Angeklagte habe sich in 22 Fällen „die Beförderung mit dem Ziel, den Fahrpreis nicht zu entrichten“, erschlichen. Gertrud F. sagt, die Fahrscheine seien ihr gestohlen worden, außerdem schulde ihr der deutsche Staat noch Rente. Dann ordnet sie ihre Zettel und ihr Haar. Der Richter bittet den psychiatrischen Gutachter um seine Erkenntnisse. Schwieriger Fall, sagt Ulrich Lange.

Wenn man die recht länglichen Ausführungen zusammenfast, kommt ungefähr folgendes heraus: Schwall an ungeordnetem Reden, wild gestikulierende alte Dame, körperlich fit, pfiffig, skurrile Ideen, Verhalten weit außerhalb der Norm.

Gutachter Lange ist 64 Jahre alt, hat nun aber offenbar einen der erstaunlichsten Fälle seiner Laufbahn vor sich, zumindest widmet er sich Gertrud F. mit großem Ernst. Die Zuschauer werden unruhig, sie wollen jetzt das gute Ende ihrer Weihnachtsgeschichte. Sie sehen eine alte Dame, die sich wohl ihre ganz eigene Welt erschaffen hat und da nicht mehr herauskommt. Der Gutachter, sagt, er sehe einen Grenzfall: „Das Gesetzeswerk und der Fall von F. bilden sich wohl nicht aufeinander ab.“

Die alte Frau ist womöglich nicht gefährlich genug, um entmündigt und in eine geschlossene Einrichtung geschickt zu werden. Aber womöglich auch nicht verrückt genug, um straffrei zu bleiben. Der Gutachter ist sich nicht sicher, der Weihnachtsgeschichte droht eine ungute Wendung.

Dann kriegt der Rechtsstaat allerdings doch noch einmal recht elegant die Kurve. Ein neuer Gutachter soll ein für allemal klären, ob Gertrud F. verhandlungs- und schuldfähig sei. Das dauere vier Monate, heißt es, bis dahin ist sie wieder auf freiem Fuß. „Ich danke euch“, sagt Frau F. zum Schluss, dann läuft sie am Weihnachtsbaum im Amtsgericht vorbei nach draußen.

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