Handys kapseln uns von der Welt ab? Wer nur noch auf Displays starrt, bekommt nicht mehr mit, was um ihn herum passiert, und verpasst das wahre Leben? Aufhören! Wir haben in München mal ein paar Apps ausprobiert, Miniprogramme also, die zum Rausgehen animieren – und uns die Stadt neu gezeigt haben. In echt.
Die Geschichte: Lauf-App mit Zombieinvasion – der nackte Kampf ums Überleben! Über Funk werde ich ab sofort „Runner 5“ genannt und bekomme lebensrettende Anweisungen, sowie die Aufgabe, Dinge zu sammeln, die ein Überleben ermöglichen. Also raus aus der gewohnten Umgebung und ab durch München: Im Hirschgarten vor Zombies flüchten, völlig durchgeschwitzt und außer Puste Schutz hinter einer großen Tanne suchen, im vom Winter ergrauten Schlosspark Nymphenburg die sabbernde Horde Untoter abhängen. Durchaus starker Tobak.
So funktioniert’s:Über die Kopfhörer wird die Horror-Szenerie akustisch aufgebaut. Zombies stöhnen und ächzen – und kommen immer näher. Das einzige, was hilft: Rennen! Je länger die zurückgelegte Strecke, desto mehr virtuelle Gegenstände können gesammelt werden. Aber auch die Zombies werden mehr und das Lechzen wird immer lauter. Kommen sie zu nah, heißt es, für eine Minute das Tempo zu erhöhen – gerne mit Zufallsrouten: Wer Zombies im Nacken hat, verlässt bereitwillig gewohnte Laufwege. Und landet dadurch in kleinen Gässchen, von denen man schwören könnte, dass sie gestern noch nicht da gewesen sind.
Das will die App mir beibringen: Mit Zombies ist eigentlich nicht zu spaßen. In dieser App aber schon. Die faule Ausrede, laufen sei zu langweilig, zählt ab sofort nicht mehr.
Nebeneffekt: Körperliche Fitness, verbunden allerdings mit leichter Angstblässe.
Das entdecke ich: Die Wirkung der lechzenden Zombies über Kopfhörer ist nicht zu unterschätzen. Die Soundkulisse hüllt die Umgebung in einen bedrohlich-aufregenden Schleier. Wer sich etwa in leerstehenden Häuser verbarrikadiert, kann kurz verschnaufen – und ganz neue Dinge in der Nachbarschaft erkunden. Letzte Zuflucht: Tiefgarage – wo kein Empfang, da auch keine Gefahr.
Die App gefällt ...:„The Walking Dead“- Fans und Menschen, die Laufen langweilig finden.
Typische Szene:„Ächz! Stöhn! Sabber! Runner 5, there’s only one thing you can do: RUN!“ (J.L.)
[seitenumbruch]
Die Geschichte: ... ist leider nicht ausgedacht. Es geht um die Vertreibung und Ermordung unzähliger Menschen während der NS-Zeit. Dass man dabei allerdings kaum Einzelschicksale betrachtet und deshalb auch eigenartig wenig Bezug zu dem Thema hat, versucht das Projekt „Stolpersteine" zu ändern. In mehr als 500 Städten innerhalb und außerhalb von Deutschland wurden bereits kleine, goldene Pflastersteine an den Stellen in den Boden gelassen, an denen früher Juden wohnten, die dem Nazi-Regime zum Opfer gefallen sind. Nur nicht in München. Mit Hilfe der App kann man jedoch auch hier nachvollziehen, welche Gräueltaten begangen wurden.
So funktioniert's: Die App trackt das Handy per GPS und meldet ehemalige Wohnorte von Verfolgten, sobald man sich in der Nähe befindet. Ein Steckbrief gibt Informationen über die früheren Bewohner des Hauses: Fotos, Geburts- und Todestag, Lebensgeschichte und der Weg der Deportation.
Das will die App mir beibringen: Die Namen und Geschichten der Verfolgten und Toten. Wo sie gearbeitet haben und zur Schule gegangen sind, wann sie ihre Partner kennengelernt haben und wer ihre Freunde und Feinde waren. Und natürlich Mitgefühl.
Das entdecke ich: Den jungen Mann, der am Gärtnerplatz gelebt hat. Kaum älter als ich selbst, hat er mit seiner Frau und seinem kleinen Kind hier gewohnt, ist auf die Geburtstagsfeiern von Freunden gegangen, hat Kuchen in seinem Lieblings-Café gegessen. Er sieht aus wie jeder zweite in der U-Bahn, ist in München geboren, hat seine Kindheit in Haidhausen verbracht. Drei Monaten nach seiner Deportation wurde er als verstorben gemeldet.
Nebeneffekt: Neben all den Gesichtern und Geschichten, die immer wieder auftauchen und mitnehmen, fällt die Veränderung auf. In den Häusern sind inzwischen schicke Schmuckgeschäfte, Reisebüros oder Bio-Bäckereien. In manchen leben noch Menschen, andere sind längst abgerissen. Aber nichts deutet in der Realität auf das hin, was hier früher stattgefunden hat. Keine Gedenktafel, kein kleiner Stolperstein, nichts. Das kann betroffen machen – oder sehr wütend.
Typische Szene: Eigentlich will ich nur schnell Brot fürs Abendessen besorgen. Aber auf einmal vibriert das Handy. Zwei Straßen weiter hat ein altes jüdisches Ehepaar gelebt, das Anfang der Vierzigerjahre deportiert wurde. Ihre Söhne und deren Familien, die ebenfalls nur einen Steinwurf entfernt gelebt haben, wurden auch verschleppt. Inzwischen sind sie alle tot bis auf eine Enkelin der Alten: Sie hat die Arbeitslager überlebt und befindet sich inzwischen in New York. Das Brot habe ich vergessen.
Die App gefällt ...: Menschen, denen Geschichte abstrakt nicht reicht. (J.D.)
[seitenumbruch]
Die Geschichte: Etwas finden, das man eigentlich gar nicht gesucht hat. Nach diesem, dem sogenannten Serendipity-Prinzip, funktioniert die App Dérive. So ergeben sich nicht nur interessante Situationen aus dem Blauen heraus, sondern man öffnet tatsächlich die Augen für das scheinbar Unwesentliche und entdeckt all die kleinen Details, die das eigene Viertel, die Unigegend, den Weg zur Arbeit so besonders machen (könnten), wenn man nur mal genauer hinschaute.
So funktioniert's: Dérive gibt einem Aufgaben: Schenke einem Fremden Blumen, zum Beispiel. Oder auch: Überquere jede grüne Ampel auf deinem Weg. Leider funktioniert die App nur auf Englisch.
Das will die App mir beibringen: Augen auf! Es gibt auch in altbekannten Stadtvierteln immer wieder Neues zu entdecken. Also genau hinschauen, einen Blick auf Mitmenschen und Umgebung riskieren und sich dabei auch mal trauen, die teils schrägen Ideen umzusetzen.
Das entdecke ich: Eine ganze Menge an Dingen, die ich in der Tat nicht gesucht habe: Auf dem 90 minütigen Weg durch Schwabing finde ich neben einem herrenlosen Stuhl und einer ehemaligen Kommilitonin während ihrer Mittagspause auch einen 24-Stunden-Apothekenautomaten. Ist mir bisher noch nie aufgefallen, dass sich direkt hinter der Uni diese Art von Notfallautomat mit Schnullern, Kondomen und Thermacare Umschlägen befindet. Außerdem stolpere ich über einen potentiellen Nebenjob und ein Restaurant, das ich schon seit Monaten immer mal wieder googeln und ausfindig machen wollte.
Das ist der Nebeneffekt: Schräge Blicke sind nicht ausgeschlossen. Das merke ich spätestens, als ich am Brunnen vor der LMU Gras ausrupfe und in die Luft werfe, um zu sehen, in welche Richtung ich mich als nächstes bewegen soll. Und bei einer Aufgabe, die mich dazu anhält, jede grüne Ampel zu überqueren, die mir begegnet, passiert es schon mal, dass man sich, einer grünen Welle sei Dank, plötzlich in der eigenen Stadt verliert und einen langen Rückweg bis zur nächsten U-Bahn Station riskiert. Irgendwie passend, denn so ein bisschen fühle ich mich während der ganzen Viertelbesichtigung ohnehin wie ein neugieriger Tourist mit glänzenden Augen.
Typische Szene:„Look for trash on the street, if it is moving, follow it." - so kann eine typische Aufgabe bei Derive lauten und dazu führen, dass man eine Plastiktüte im Wind durch die Straßen Münchens verfolgt. Für Fortgeschrittene: Stille finden - und das mitten in Schwabing. Schwer, gleichzeitig aber eine interessante neue Art, die Umgebung wahrzunehmen: einfach mal nur auf die Ohren verlasse. Auf der Suche nach Stille, nach keinem konkreten Ort sondern einfach nach einem geringeren Lärmpegel. Und umso schöner, es dann auch zu schaffen, inmitten des Zentrums Vogelgezwitscher wahrzunehmen, und Blättern beim Fallen zu lauschen.
Die App gefällt ...: Menschen, die gern mal ausprobieren wollen, wie es ist, ohne konkretes Ziel durch die Stadt zu flanieren und gleichzeitig noch Anreize zu bekommen, worauf sie achten könnten. (L.F)
[seitenumbruch]
Die Geschichte: Als Inspector Tripton ermittle ich im Mord an dem Journalisten Tom Keller, dessen Leiche in den frühen Morgenstunden im U-Bahnhof Marienplatz gefunden wurde. Während der normale Shopping-Alltag tobt, gilt es, virtuelle Verdächtige zu befragen, Beweismittel zu sammeln und neue Winkel der Münchner Innenstadt zu entdecken.
So funktioniert’s: Die App verknüpft das reale Umfeld mit einer virtuellen Welt. „Augmented Reality“ also. Am Tatort angekommen, vibriert auf einmal das Handy und die Kamera aktiviert sich automatisch. Offenbar ist das die Aufforderung, die Umgebung zu filmen. Kamera schwenken also – nach links, nach rechts. Zwischen den Leuten, die tatsächlich am Marienplatz rumstehen, tauchen plötzlich virtuelle Person auf, denen ich vorgegebene Fragen stellen kann, die auf dem Bildschirm erscheinen. Danach geht’s via GPS zu weiteren Schauplätzen und mehr Verdächtigen.
Das will die App mir beibringen: Die Stadt sieht durch die Augen eines Ermittlers anders aus.
Nebeneffekt: Gerade an hochfrequentierten Orten steht man den Leuten sehr im Weg. Trotzdem wird man gemieden: Wer laufend auf nicht anwesende Personen deutet, muss sehr seltsam wirken.
Das entdecke ich: Eigentlich bin ich genervt von den Menschenmassen in der Münchner Innenstadt. In der Rolle des Inspector Tripton fühle ich mich aber angenehm isoliert von dem Geschehen um mich herum. Die Ermittlungen führen zu bekannten Wahrzeichen von München und die Gespräche mit den virtuellen Verdächtigen fördern nicht nur Informationen über den Fall zu Tage, sondern auch über wichtige Gebäude der Stadt.
Die App gefällt ...: Fans der Ermittlerbande TKKG oder der Drei Fragezeichen. Wer sonst gern Batiæ und Leitmayr beim „Tatort“-Ermitteln zuschaut, könnte auch seine Freude haben.
Typische Szene:„Wo waren Sie gestern zwischen vier und sieben Uhr morgens?“ Die Frage geht an den Pfarrer vom Alten Peter. Er hat kein Alibi. Eine Schweißperle bildet sich auf seiner Stirn. (J.L.)
[seitenumbruch]
Die Geschichte: Die Welt – und natürlich auch München – ist in Planquadrate von ein paar wenigen Straßenzügen aufgeteilt, die erobert werden müssen. Egal, ob das Viertel, in dem ich groß geworden bin, das Gebiet rund um die Uni oder der Weg zur Arbeit: All das kann mir gehören. Dieses Spiel ist der App-gewordene Sido-Song „Mein Block“.
So funktioniert’s: Per GPS verfolgt die App den Weg durch die Stadt. Je mehr Strecke in den Quadraten zurückgelegt wird, desto mehr Loyalitätspunkte gibt es. Diese Punkte braucht es, um die Areale einzunehmen. Wenn der Besitzer schwach ist, geht das teilweise schon mit einem kleinen Spaziergang. Bei anderen ist harte Arbeit angesagt: Zwei Wochen lang immer wieder den gleichen, viel zu langen Weg zur Post zu nehmen, eine ausschweifende Extrarunde auf dem Heimweg. Sobald mir ein Gebiet gehört, müssen alle anderen Spieler, die es betreten, virtuellen Zoll zahlen. Mit dem verdienten Geld lassen sich unter anderem Mauern bauen, damit die Quadrate nicht so schnell von anderen Spielern eingenommen werden können. Abkürzung zum Reichtum: Schatztruhen sammeln.
Das will die App mir beibringen: Rausgehen, frische Luft schnappen und mein Viertel zu Fuß, auf dem Rad oder im Auto erkunden.
Das entdecke ich: Meine Heimat. Ich finde neue und alte Schleichwege, entdecke Baustellen und Abrisshäuser. Außerdem kenne ich mich nun überraschend gut in den Gärten meiner Nachbarn aus.
Nebeneffekt: Wenn meine Freunde sich mit dem Auto zum Wocheneinkauf aufmachen, bin ich nach Möglichkeit dabei – so gewinne ich viel schneller Loyalität in den Straßen von München. Für mich wird deswegen sogar eine Extrarunde auf dem Parkplatz gedreht.
Typische Szene: Digitale Schatztruhe auf dem Garagendach! Die Gier ist größer als die Achtung vor dem Privatgrund: Raufklettern also, gut einsehbar von allen Seiten, und laut jubeln über den gewonnenen Reichtum. Im Nachfassen: Peinlichkeit der Situation bemerken.
Die App gefällt ...: Platzhirschen. Egal ob Heimkehrer, Dagebliebener oder Zugezogener. München gehört dir. (J.D.)
Zombie-Apokalypse 2.0
Die Geschichte: Lauf-App mit Zombieinvasion – der nackte Kampf ums Überleben! Über Funk werde ich ab sofort „Runner 5“ genannt und bekomme lebensrettende Anweisungen, sowie die Aufgabe, Dinge zu sammeln, die ein Überleben ermöglichen. Also raus aus der gewohnten Umgebung und ab durch München: Im Hirschgarten vor Zombies flüchten, völlig durchgeschwitzt und außer Puste Schutz hinter einer großen Tanne suchen, im vom Winter ergrauten Schlosspark Nymphenburg die sabbernde Horde Untoter abhängen. Durchaus starker Tobak.
So funktioniert’s:Über die Kopfhörer wird die Horror-Szenerie akustisch aufgebaut. Zombies stöhnen und ächzen – und kommen immer näher. Das einzige, was hilft: Rennen! Je länger die zurückgelegte Strecke, desto mehr virtuelle Gegenstände können gesammelt werden. Aber auch die Zombies werden mehr und das Lechzen wird immer lauter. Kommen sie zu nah, heißt es, für eine Minute das Tempo zu erhöhen – gerne mit Zufallsrouten: Wer Zombies im Nacken hat, verlässt bereitwillig gewohnte Laufwege. Und landet dadurch in kleinen Gässchen, von denen man schwören könnte, dass sie gestern noch nicht da gewesen sind.
Das will die App mir beibringen: Mit Zombies ist eigentlich nicht zu spaßen. In dieser App aber schon. Die faule Ausrede, laufen sei zu langweilig, zählt ab sofort nicht mehr.
Nebeneffekt: Körperliche Fitness, verbunden allerdings mit leichter Angstblässe.
Das entdecke ich: Die Wirkung der lechzenden Zombies über Kopfhörer ist nicht zu unterschätzen. Die Soundkulisse hüllt die Umgebung in einen bedrohlich-aufregenden Schleier. Wer sich etwa in leerstehenden Häuser verbarrikadiert, kann kurz verschnaufen – und ganz neue Dinge in der Nachbarschaft erkunden. Letzte Zuflucht: Tiefgarage – wo kein Empfang, da auch keine Gefahr.
Die App gefällt ...:„The Walking Dead“- Fans und Menschen, die Laufen langweilig finden.
Typische Szene:„Ächz! Stöhn! Sabber! Runner 5, there’s only one thing you can do: RUN!“ (J.L.)
[seitenumbruch]
Stolpersteine – Münchner Geschichte
Die Geschichte: ... ist leider nicht ausgedacht. Es geht um die Vertreibung und Ermordung unzähliger Menschen während der NS-Zeit. Dass man dabei allerdings kaum Einzelschicksale betrachtet und deshalb auch eigenartig wenig Bezug zu dem Thema hat, versucht das Projekt „Stolpersteine" zu ändern. In mehr als 500 Städten innerhalb und außerhalb von Deutschland wurden bereits kleine, goldene Pflastersteine an den Stellen in den Boden gelassen, an denen früher Juden wohnten, die dem Nazi-Regime zum Opfer gefallen sind. Nur nicht in München. Mit Hilfe der App kann man jedoch auch hier nachvollziehen, welche Gräueltaten begangen wurden.
So funktioniert's: Die App trackt das Handy per GPS und meldet ehemalige Wohnorte von Verfolgten, sobald man sich in der Nähe befindet. Ein Steckbrief gibt Informationen über die früheren Bewohner des Hauses: Fotos, Geburts- und Todestag, Lebensgeschichte und der Weg der Deportation.
Das will die App mir beibringen: Die Namen und Geschichten der Verfolgten und Toten. Wo sie gearbeitet haben und zur Schule gegangen sind, wann sie ihre Partner kennengelernt haben und wer ihre Freunde und Feinde waren. Und natürlich Mitgefühl.
Das entdecke ich: Den jungen Mann, der am Gärtnerplatz gelebt hat. Kaum älter als ich selbst, hat er mit seiner Frau und seinem kleinen Kind hier gewohnt, ist auf die Geburtstagsfeiern von Freunden gegangen, hat Kuchen in seinem Lieblings-Café gegessen. Er sieht aus wie jeder zweite in der U-Bahn, ist in München geboren, hat seine Kindheit in Haidhausen verbracht. Drei Monaten nach seiner Deportation wurde er als verstorben gemeldet.
Nebeneffekt: Neben all den Gesichtern und Geschichten, die immer wieder auftauchen und mitnehmen, fällt die Veränderung auf. In den Häusern sind inzwischen schicke Schmuckgeschäfte, Reisebüros oder Bio-Bäckereien. In manchen leben noch Menschen, andere sind längst abgerissen. Aber nichts deutet in der Realität auf das hin, was hier früher stattgefunden hat. Keine Gedenktafel, kein kleiner Stolperstein, nichts. Das kann betroffen machen – oder sehr wütend.
Typische Szene: Eigentlich will ich nur schnell Brot fürs Abendessen besorgen. Aber auf einmal vibriert das Handy. Zwei Straßen weiter hat ein altes jüdisches Ehepaar gelebt, das Anfang der Vierzigerjahre deportiert wurde. Ihre Söhne und deren Familien, die ebenfalls nur einen Steinwurf entfernt gelebt haben, wurden auch verschleppt. Inzwischen sind sie alle tot bis auf eine Enkelin der Alten: Sie hat die Arbeitslager überlebt und befindet sich inzwischen in New York. Das Brot habe ich vergessen.
Die App gefällt ...: Menschen, denen Geschichte abstrakt nicht reicht. (J.D.)
[seitenumbruch]
Derivé
Die Geschichte: Etwas finden, das man eigentlich gar nicht gesucht hat. Nach diesem, dem sogenannten Serendipity-Prinzip, funktioniert die App Dérive. So ergeben sich nicht nur interessante Situationen aus dem Blauen heraus, sondern man öffnet tatsächlich die Augen für das scheinbar Unwesentliche und entdeckt all die kleinen Details, die das eigene Viertel, die Unigegend, den Weg zur Arbeit so besonders machen (könnten), wenn man nur mal genauer hinschaute.
So funktioniert's: Dérive gibt einem Aufgaben: Schenke einem Fremden Blumen, zum Beispiel. Oder auch: Überquere jede grüne Ampel auf deinem Weg. Leider funktioniert die App nur auf Englisch.
Das will die App mir beibringen: Augen auf! Es gibt auch in altbekannten Stadtvierteln immer wieder Neues zu entdecken. Also genau hinschauen, einen Blick auf Mitmenschen und Umgebung riskieren und sich dabei auch mal trauen, die teils schrägen Ideen umzusetzen.
Das entdecke ich: Eine ganze Menge an Dingen, die ich in der Tat nicht gesucht habe: Auf dem 90 minütigen Weg durch Schwabing finde ich neben einem herrenlosen Stuhl und einer ehemaligen Kommilitonin während ihrer Mittagspause auch einen 24-Stunden-Apothekenautomaten. Ist mir bisher noch nie aufgefallen, dass sich direkt hinter der Uni diese Art von Notfallautomat mit Schnullern, Kondomen und Thermacare Umschlägen befindet. Außerdem stolpere ich über einen potentiellen Nebenjob und ein Restaurant, das ich schon seit Monaten immer mal wieder googeln und ausfindig machen wollte.
Das ist der Nebeneffekt: Schräge Blicke sind nicht ausgeschlossen. Das merke ich spätestens, als ich am Brunnen vor der LMU Gras ausrupfe und in die Luft werfe, um zu sehen, in welche Richtung ich mich als nächstes bewegen soll. Und bei einer Aufgabe, die mich dazu anhält, jede grüne Ampel zu überqueren, die mir begegnet, passiert es schon mal, dass man sich, einer grünen Welle sei Dank, plötzlich in der eigenen Stadt verliert und einen langen Rückweg bis zur nächsten U-Bahn Station riskiert. Irgendwie passend, denn so ein bisschen fühle ich mich während der ganzen Viertelbesichtigung ohnehin wie ein neugieriger Tourist mit glänzenden Augen.
Typische Szene:„Look for trash on the street, if it is moving, follow it." - so kann eine typische Aufgabe bei Derive lauten und dazu führen, dass man eine Plastiktüte im Wind durch die Straßen Münchens verfolgt. Für Fortgeschrittene: Stille finden - und das mitten in Schwabing. Schwer, gleichzeitig aber eine interessante neue Art, die Umgebung wahrzunehmen: einfach mal nur auf die Ohren verlasse. Auf der Suche nach Stille, nach keinem konkreten Ort sondern einfach nach einem geringeren Lärmpegel. Und umso schöner, es dann auch zu schaffen, inmitten des Zentrums Vogelgezwitscher wahrzunehmen, und Blättern beim Fallen zu lauschen.
Die App gefällt ...: Menschen, die gern mal ausprobieren wollen, wie es ist, ohne konkretes Ziel durch die Stadt zu flanieren und gleichzeitig noch Anreize zu bekommen, worauf sie achten könnten. (L.F)
[seitenumbruch]
Inspector Tripton
Die Geschichte: Als Inspector Tripton ermittle ich im Mord an dem Journalisten Tom Keller, dessen Leiche in den frühen Morgenstunden im U-Bahnhof Marienplatz gefunden wurde. Während der normale Shopping-Alltag tobt, gilt es, virtuelle Verdächtige zu befragen, Beweismittel zu sammeln und neue Winkel der Münchner Innenstadt zu entdecken.
So funktioniert’s: Die App verknüpft das reale Umfeld mit einer virtuellen Welt. „Augmented Reality“ also. Am Tatort angekommen, vibriert auf einmal das Handy und die Kamera aktiviert sich automatisch. Offenbar ist das die Aufforderung, die Umgebung zu filmen. Kamera schwenken also – nach links, nach rechts. Zwischen den Leuten, die tatsächlich am Marienplatz rumstehen, tauchen plötzlich virtuelle Person auf, denen ich vorgegebene Fragen stellen kann, die auf dem Bildschirm erscheinen. Danach geht’s via GPS zu weiteren Schauplätzen und mehr Verdächtigen.
Das will die App mir beibringen: Die Stadt sieht durch die Augen eines Ermittlers anders aus.
Nebeneffekt: Gerade an hochfrequentierten Orten steht man den Leuten sehr im Weg. Trotzdem wird man gemieden: Wer laufend auf nicht anwesende Personen deutet, muss sehr seltsam wirken.
Das entdecke ich: Eigentlich bin ich genervt von den Menschenmassen in der Münchner Innenstadt. In der Rolle des Inspector Tripton fühle ich mich aber angenehm isoliert von dem Geschehen um mich herum. Die Ermittlungen führen zu bekannten Wahrzeichen von München und die Gespräche mit den virtuellen Verdächtigen fördern nicht nur Informationen über den Fall zu Tage, sondern auch über wichtige Gebäude der Stadt.
Die App gefällt ...: Fans der Ermittlerbande TKKG oder der Drei Fragezeichen. Wer sonst gern Batiæ und Leitmayr beim „Tatort“-Ermitteln zuschaut, könnte auch seine Freude haben.
Typische Szene:„Wo waren Sie gestern zwischen vier und sieben Uhr morgens?“ Die Frage geht an den Pfarrer vom Alten Peter. Er hat kein Alibi. Eine Schweißperle bildet sich auf seiner Stirn. (J.L.)
[seitenumbruch]
Geo Empires – München erobern
Die Geschichte: Die Welt – und natürlich auch München – ist in Planquadrate von ein paar wenigen Straßenzügen aufgeteilt, die erobert werden müssen. Egal, ob das Viertel, in dem ich groß geworden bin, das Gebiet rund um die Uni oder der Weg zur Arbeit: All das kann mir gehören. Dieses Spiel ist der App-gewordene Sido-Song „Mein Block“.
So funktioniert’s: Per GPS verfolgt die App den Weg durch die Stadt. Je mehr Strecke in den Quadraten zurückgelegt wird, desto mehr Loyalitätspunkte gibt es. Diese Punkte braucht es, um die Areale einzunehmen. Wenn der Besitzer schwach ist, geht das teilweise schon mit einem kleinen Spaziergang. Bei anderen ist harte Arbeit angesagt: Zwei Wochen lang immer wieder den gleichen, viel zu langen Weg zur Post zu nehmen, eine ausschweifende Extrarunde auf dem Heimweg. Sobald mir ein Gebiet gehört, müssen alle anderen Spieler, die es betreten, virtuellen Zoll zahlen. Mit dem verdienten Geld lassen sich unter anderem Mauern bauen, damit die Quadrate nicht so schnell von anderen Spielern eingenommen werden können. Abkürzung zum Reichtum: Schatztruhen sammeln.
Das will die App mir beibringen: Rausgehen, frische Luft schnappen und mein Viertel zu Fuß, auf dem Rad oder im Auto erkunden.
Das entdecke ich: Meine Heimat. Ich finde neue und alte Schleichwege, entdecke Baustellen und Abrisshäuser. Außerdem kenne ich mich nun überraschend gut in den Gärten meiner Nachbarn aus.
Nebeneffekt: Wenn meine Freunde sich mit dem Auto zum Wocheneinkauf aufmachen, bin ich nach Möglichkeit dabei – so gewinne ich viel schneller Loyalität in den Straßen von München. Für mich wird deswegen sogar eine Extrarunde auf dem Parkplatz gedreht.
Typische Szene: Digitale Schatztruhe auf dem Garagendach! Die Gier ist größer als die Achtung vor dem Privatgrund: Raufklettern also, gut einsehbar von allen Seiten, und laut jubeln über den gewonnenen Reichtum. Im Nachfassen: Peinlichkeit der Situation bemerken.
Die App gefällt ...: Platzhirschen. Egal ob Heimkehrer, Dagebliebener oder Zugezogener. München gehört dir. (J.D.)