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Und nichts als die Wahrheit

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Erinnerungen können Folter sein. Hasan Nuhanovic kriegt diese Bilder nicht aus dem Kopf, obwohl sie so lange her sind: Der Moment, wo er von seinen UN-Vorgesetzten gezwungen wird, der eigenen Familie das Todesurteil in drei Wörtern zu übersetzen: "Ihr müsst gehen." Sein kleiner Bruder, der verzweifelt aufspringt und ruft: "Zur Hölle mit ihnen. Ich werd" sie nicht anbetteln. Ich gehe jetzt da raus." Hasan, der ihm hinterherlaufen und ihn begleiten will. Seine Eltern, die ihn anflehen zu bleiben. Ihr allerletzter Satz: "Mach Dir keine Sorgen, er ist ja bei uns, es wird uns nichts passieren." Und die Blauhelme, die auf den Boden sahen und denselben Satz sagten: "Es wird ihnen nichts passieren." Dabei hörte man draußen schon die Schüsse.



Ein Bosnier trauert neben dem Sarg seines Verwandten im Juli 2012. Zum Jahrestag des Massakers wurden kürzlich identifizierte Opfer bestattet.

Hasan Nuhanovic sitzt in einer Bar in Sarajevo, direkt gegenüber vom Parlamentsgebäude, wo er ein winziges Büro hat. Ein hagerer großer Mann, er raucht viel an dem Abend, manchmal zündet er eine Zigarette an, während die andere noch brennt. Er wirkt zerknittert, nicht wie ein großer Sieger. Obwohl er das ist, aber dazu später. Sie nennen ihn den Elie Wiesel von Sarajevo. Seine Freunde nannten ihn lange auch Don Quijote. Weil er allen Ernstes die Niederlande verklagte. Viele rieten ihm, aufzugeben. Auszuwandern. "Aber wozu hat Gott mir dieses Leben gegeben, das 8000 Menschen genommen wurde", fragt Nuhanovic.

8000. Zahlen sind der Tod der Vorstellung. 8000Menschen wurden im Sommer 1995 in der Nähe von Srebrenica umgebracht. Schlimm, sagte die Weltgemeinschaft damals, wirklich schlimm. Andererseits: Was willste machen, Balkan. Die sind so. Der britische Premierminister John Major sprach bezüglich des Bosnienkrieges von einem "uneuropäischen Krieg im Stile des Mittelalters."

8000 Menschen. Fünf Tage lang dauerten die Massaker, die von langer Hand vorbereitet worden waren: Die Killer hatten 10 000 Augenbinden vorbereitet, 10000 Drahtfesseln für die Hände, sie hatten in den Wochen zuvor mehrere Hundert Busse und Dutzende Bulldozer herbeigeschafft und Gebäude für ihre Massenexekutionen leergeräumt. Drazen Erdemovic, einer der Killer, sagte vor dem Haager Tribunal: "Ich konnte irgendwann einfach nicht mehr schießen, mein Zeigefinger wurde vom vielen Töten taub. Ich hab sie stundenlang getötet." Erdemovic wurden damals fünf Mark pro Leiche versprochen, also machte er bei den Erschießungen von 20 Busladungen mit. Ob Hasan Nuhanovics Eltern und sein Bruder zu Erdemovics Opfern gehörten? Nuhanovic wird es nie erfahren. "Ich kann ja schon froh sein, dass ich irgendwann ein paar Rippen von meiner Mutter gefunden habe."

Nuhanovic arbeitete während des Bosnienkrieges als Dolmetscher der UN-Truppen, die Srebrenica schützen sollten, schließlich galt die bosnische Enklave seit 1992 als Protektorat, weshalb immer mehr Flüchtlinge in die Kleinstadt geströmt kamen. Als die bosnisch-serbischen Truppen unter ihrem Oberbefehlshaber Ratko Mladic die Stadt am 11. Juli 1995 einnahmen, machten sich 12000 bis 15000 bosnische Männer auf den Weg durch die Wälder in Richtung bosnischer Gebiete. 6000 kamen am Ende an. Die übrigen wurden erschossen, verbrannt, erstochen. 30 000 Menschen aber flohen von Srebrenica aus ins fünf Kilometer entfernte Potocari, wo die UN-Blauhelme auf einem ehemaligen Fabrikgelände stationiert waren. Sie hofften dort auf Schutz. Ein Fehler. Die UN ließ vorübergehend 6000 Menschen auf das Gelände, 25 000 aber wurde von Anfang an der Zugang verwehrt.

Es gibt eine berühmte Videoaufnahme über die Einnahme von Srebrenica. Berühmt deshalb, weil Mladic darin die anschließenden Massaker offen ankündigt. Er geht durch die menschenleeren Straßen und befiehlt seinen Truppen, sofort nach Potocari weiterzumarschieren. Dann hält er an und sagt in die Kamera: "Ich übergebe Srebrenica hiermit dem serbischen Volk. Wir werden nun endlich die berechtigte Rache nehmen an den Türken." Mit den Türken meint er die bosnischen Muslime. Die "berechtigte Rache" bezieht sich darauf, dass die Türken einst die Besatzer dieser Gebiete waren. Wenige Stunden nach dieser klaren Ansage stimmte der UN-Kommandant Thomas Karremans der Übergabe all der zu ihm geflohenen Menschen an Mladics Truppen zu.

Mladic hatte im März mit der gezielten Einschüchterung der niederländischen UN-Truppe begonnen und keine Lebensmitteltransporter mehr in die Schutzzone durchgelassen. Zum Schluss wurden die "Dutchbats" von den Serben richtiggehend gedemütigt. Soldaten mussten ihre Helme und schusssicheren Westen an sie abgeben, ja einige mussten sich bis auf die Unterhose ausziehen. Mussten sie wirklich? Sie haben all das jedenfalls mit sich machen lassen. Karremans wurde von Mladic in ein Hotel beordert, wo das Foto entstand, das um die Welt ging: Karremans und Mladic stoßen miteinander an, während draußen das große Schlachten beginnt. Mladic redet mit dem UN-Kommandanten wie mit einem ungehörigen Schüler. Der sagt den unfassbar demütigen Satz: "I am a piano player, don"t shoot the piano player." Mladics Antwort: "You are a lousy piano player." Nach den Deportationen ließ Karremans die Serben dann auch noch sein Gebäude inspizieren, ob sich auch ja nicht irgendwelche Bosnier dort versteckt hielten.

Noch Wochen nach dem Abzug lobte Karremans Mladic wegen dessen Militärstrategie und sagte, die "Schlacht um Srebrenica war von Seiten der Serben eine korrekte militärische Operation". Im "Debriefing-Report", den der niederländische Verteidigungsminister im Oktober 1995 vorlegte, heißt es: "Als militärische Optionen nicht mehr möglich waren, konzentrierten sich die niederländischen Blauhelme darauf, die größte humanitäre Not unter den Flüchtlingen zu lindern. Dank ihrer Anstrengungen wurde eine größere Katastrophe verhindert."

Hasan Nuhanovic hat das anders erlebt: Seine Eltern und sein Bruder zählten zu den 6000 Menschen, die sich aufs UN-Gelände hatten flüchten können. Draußen im Dunkeln hörte man Exekutionsschüsse und Schreie, außerdem war zu sehen, dass Mladics Soldaten die Männer und Jungen von den Frauen trennten und abtransportierten. Eine deutsche Krankenschwester kam zu den niederländischen UN-Leuten und sagte, direkt vor dem Gelände lägen bereits neun Tote. Trotzdem lieferten Karremans" Soldaten alle Flüchtlinge aus und sagten Nuhanovic, er müsse endlich seine Familie wegschicken. Als er fragte, ob sie nicht wenigstens seinen Bruder in einem UN-Wagen rausschmuggeln könnten, schüttelten die UN-Soldaten den Kopf, sie hätten zu viel Gepäck und deshalb keinen Platz.

Nuhanovic ist heute 45 Jahre alt. Aber er wirkt viel älter. Nicht gebrochen. Er ist auch nicht hinfällig, sondern hat eine nervöse Drahtigkeit an sich. Aber man merkt ihm die ganze Zeit über an, dass er seit 1995 mit dem Tod zusammenlebt. "Jahrelang war da dieser Albtraum: Meine Mutter, die mir sagt, dass sie mich nicht mehr liebt, weil ich meinen Bruder nicht gerettet habe."

Nach dem Krieg machte sich Nuhanovic auf die Suche nach seiner Familie. Wenigstens die Leichen wollte er finden. Wenigstens eigene Gräber sollten sie bekommen. Die Suche dauerte 15 Jahre. 15 Jahre, nur um am Ende zu wissen, dass die Überreste seiner Mutter unter einer Müllkippe verrotteten. In einem Bach am Dorfausgang von Jarovlje. Zusammen mit den Überresten von sechs anderen Leichen. Das Wort Überreste hat in diesem Fall einen makabren Doppelsinn, schließlich haben die Serben die Massengräber immer neu geöffnet und die Leichenberge mit Baggern auseinandergerissen und umgeschichtet, um Spuren zu verwischen. Manche Skelette wurden so über fünf Gräber verteilt. Von seiner Mutter fand Nuhanovic nur einige Rippen. Von seinem Vater immerhin den Schädel. Das Skelett seines Bruder erkannte er an Adidas-Turnschuhen, die er ihm kurz vor dem Massaker geschenkt hatte und die 2010 zum Vorschein kamen.

Wohin mit dem Schmerz? Nuhanovic war zusammen mit einigen der Witwen von Srebrenica Mitbegründer des Memorial Centers in Potocari, für das er auch heute arbeitet. Und er fing seinen Prozess an. Erst gegen die UN. Die aber, so musste er vor Gericht lernen, genießen absolute Immunität. Dann eben gegen den niederländischen Staat. Zusammen mit den Hinterbliebenen von Rizo Mustafic. Mustafic war, obwohl er als Elektriker der UN-Einheit arbeitete, ebenfalls ausgeliefert und anschließend umgebracht worden. Karremans sagte vor Gericht bedauernd, man habe Mustafic "schlichtweg vergessen". Wenn Karremans von Spanien, wo er heute lebt, zum Prozess nach Den Haag flog, schickte er danach seine Flug- und Hotelrechnungen an Nuhanovic. Der musste dann jeweils über 2000 Euro zahlen. Eine niederländische NGO half ihm, er selbst hätte das Geld nie aufbringen können.

Und half ihm denn hier in Bosnien niemand? Gibt es in Sarajevo kein bürgerliches Bündnis, das die Vergangenheit aufarbeitet? Nuhanovic antwortet auf solche Fragen nur mit einem staubigen Lachen. Er hat ja recht, es gibt hier kaum so etwas wie eine bürgerliche Mitte, und "bürgerschaftliches Engagement" scheitert schon daran, dass es hier im Grunde genommen erst mal gar keine Bürger gibt, sondern nur Bosniaken (ein Synonym für Muslime), Kroaten, Serben und "Andere": Man wird ausgerechnet in diesem Land, das wie kein anderes europäisches Land in den letzten Jahrzehnten unter ethnischen Säuberungen gelitten hat, auch heute wieder von Amts wegen ethnisch unterteilt. Wer zu den "Anderen" gehört, also etwa Jude ist oder Roma, darf keine politischen Ämter bekleiden und ist von Verwaltungsposten ausgeschlossen.

Für Nuhanovic kommt hinzu, dass die meisten Menschen einfach nicht mehr an den Krieg erinnert werden wollen. Wenn Nuhanovic in der Parlamentskantine auf Nachfrage hin sagt, dass er für das Memorial in Potocari arbeitet, verstummen die Gespräche. "Klar, den Serben ist es peinlich, aber die Bosniaken wollen auch ihre Ruhe haben." Das stimmt, viele jüngere Leute in Sarajevo winken ab, wenn man ihnen mit dem Krieg kommt, es nervt, es ist vorbei. Dabei stimmt das natürlich nur bedingt: Während Nuhanovic von seinen Erfahrungen erzählt, werden in der Nähe von Prijedor, dort, wo seinerzeit das erste serbische Konzentrationslager stand, Massengräber ausgehoben. "12 Meter tief", sagt Nuhanovic. "12 Meter Körperreste, man muss hier meist sehr tief graben."

Nuhanovic hat selbst tief gegraben: Er hat ein Buch geschrieben, "Under the UN Flag", eine minutiöse Chronologie der Ereignisse in Srebrenica, in dem er das Versagen der UN-Truppen herausarbeitete. Und er hat seinen Prozess durchgestanden. Ein Willensmarathon. Seine Frau sagte irgendwann, er solle endlich aufhören, er alleine könne doch nie gegen ein ganzes Land gewinnen. Hat er dann doch: 2011 gab ihm ein Zivilgericht recht. Die Niederlande gingen daraufhin vor dem Hohen Rat in Den Haag in Berufung, dem höchsten niederländischen Zivil- und Strafgericht. Der aber bestätigte vor wenigen Wochen das Urteil und machte damit den niederländischen Staat für den Tod der drei Männer haftbar. Die Richter argumentierten, nach internationalem Recht sei der entsendende Staat mitverantwortlich für seine Friedenstruppe, auch wenn die unter UN-Mandat operiere. Eine juristische Sensation. Und ein weltweiter Präzedenzfall.

Der Prozess endlich gewonnen, die Überreste seiner Familie gefunden und zu Grabe getragen. Der Kriegsverbrecher Ratko Mladic sitzt in Den Haag im Gefängnis. Nuhanovic hat das Memorial in Potocari mitgegründet und sein Buch fertig geschrieben - ist denn nun für ihn der Kampf vorbei? "Wie sollte er?", sagt Nuhanovic und zeigt rüber zum Parlamentsgebäude. "Sechs Stockwerke über mir hat Radenko Stanic sein Büro." Nuhanovic starrt nach oben, als könne er Stanic über seinem Kopf herumlaufen sehen. "Der sitzt nur ein paar Meter über mir. Im Sicherheitsministerium."

Stanic war während des Krieges Polizeichef von Vlasenica, einer Stadt, in der Hunderte Bosnier ermordet wurden. Augenzeugen behaupten, Nuhanovics Mutter sei ebenfalls in Vlasenica getötet worden. "Wie halten Sie das aus, wenn Sie dem begegnen?" "Ich weiß zum Glück nicht, wie er aussieht. Ich will es auch nicht wissen. Weil ich nicht weiß, wie ich sonst reagieren würde, wenn ich ihm gegenüberstehe. Aber es geht mir nicht um Stanic. Sondern darum, dass Hunderte Kriegsverbrecher in diesem Land unbehelligt herumlaufen dürfen."

Zwei Tage nach dem Treffen steht in den Zeitungen, dass zehn bosnisch-serbische Kriegsverbrecher "aufgrund von Verfahrensfehlern in ihren Prozessen" freigelassen wurden.

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