Die Debatte startet mit tiefen Reggae-Riddims. Sie schnarrt durch gedämpfte Saxophone und verwirbelt Funk-Rhythmen mit arabischen Melodien. "Gefangene!", singt die Band Autostrad im Chor. "Jede Stunde an jedem Tag. Auf der selben Straße. Wir leiden Mr. Director. Gefangene! Mom, wir sind Gefangene!" Die sechs Musiker behandeln in ihrem Song "Tafjeer" die Unterdrückung von Arabern im Nahen Osten.
Eigentlich kommt die Gruppe aus Jordanien. Ihre Fans verehren sie aber in der ganzen Region: im Libanon, in Syrien, im Westjordanland und in Israel. Für diese Menschen wollten sie spielen. "Hunderte Palästinenser haben aus Israel und den besetzten Gebieten geschrieben. Sie wünschten sich Autostrad auf der Bühne", sagt Managerin Shermine. Also fing die 30-Jährige mit der Planung an. Die Band packte Schlagzeug und Gitarren in einen Kleinbus und besorgte sich Auftrittsgenehmigungen und Einreisevisa. Dann überquerte sie die Grenze Richtung Israel. Es ging um Gigs in kleinen Hallen und Clubs in Haifa, Jerusalem, Ramallah und Nazareth. Eine ganz normale Tour. Aber im Land des Nahost-Konflikts kann schon das Wort "normal" zu einem riesigen Problem werden.
Denn plötzlich fand sich Autostrad in der Mitte eines Streits unter jungen Palästinensern wieder. Ihr Auftritt, so beschwerten sich viele, schade der Sache und helfe den Israelis. Aufgebrachte Aktivisten kamen sogar zum Konzert in Haifa und verteilten Flyer. Im arabischsprachigen Twitter verbreitete sich ein Hashtag, der ungefähr mit "Come after it is liberated" übersetzt werden kann. Immer wieder hieß es: Eure Auftritte helfen nicht. Ihr untergrabt den Boykott. Ihr zementiert die "Normalisierung", weil ihr mit den Israelis zusammenarbeitet. Nur wegen ein paar Live-Auftritten. Schon lange befürchten Aktivisten, dass ihre palästinensischen Landsleute vergessen. Dass die Besatzung des Westjordanlands zur einzigen Realität geworden ist – sich der momentane Zustand in den Köpfen von jungen Palästinensern "normalisiert" hat.
Die jordanische Band Autostrad spielt auch in Israel - zum Ärger der BDS-Bewegung
"Wir müssen uns fragen, wer von so einer Entwicklung profitiert. Das sind sicher nicht wir als Palästinenser", sagt Fayrouz Sharqawi von der Organisation Grassroots Jerusalem. Sie betreut und vernetzt junge Aktivisten rund um Jerusalem, macht sie untereinander bekannt, hilft bei der Planung von gemeinsamen Aktionen. Sie findet: Die Palästinenser müssten immer wieder wachgerüttelt werden. Ein großer Teil von ihnen sei immerhin erst nach 1967 geboren worden. Damals annektierte Israel sowohl das Westjordanland als auch den Gaza-Streifen. Die jungen Leute, so die Sorge, haben nie einen anderen Zustand kennengelernt als die Besatzung. Mehr noch: Sie könnten den Glauben an ein eigenes Land Palästina verlieren.
25 Jahre ist es her, seit Jassir Arafat als Anführer der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) den eigenen Staat ausrief. Ein Viertel-Jahrhundert später verhandeln Politiker von beiden Seiten noch immer über den Frieden. Noch immer um die Zweistaatenlösung. Doch wieder stocken die Bemühungen. Der Status Quo zwischen Israel und den besetzten Gebieten könnte zu einem Zustand für die Ewigkeit mutieren, so befürchten viele.
Seit 2005 wächst deshalb die Unterstützung für die Bewegung Boycott, Divest and Sanctions (BDS). Für ihre Anhänger gibt es nur einen Weg, diese Normalisierung zu verhindern: den Boykott. Sie wollen jegliche Zusammenarbeit mit Israel in ökonomischen, kulturellen und akademischen Angelegenheiten einfrieren. Es gibt keine Studentenaustausche mehr, NGOs, die die Besatzung nicht ausdrücklich ablehnen, werden ausgesperrt. Auch die Zusammenarbeit mit israelischen Behörden verweigern BDS-Anhänger grundsätzlich. Mittlerweile zieht der Protest weltweit Kreise, zahlreiche Unternehmen haben die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Israel gekündigt. Studentenschaften und Unis setzen Austauschprogramme aus.
Auch die Band Autostrad bekommt den Boykott zu spüren. "Ich habe nichts gegen die Musik der Gruppe. Es geht ums Prinzip", sagt Fayrouz von Grassroots Jerusalem. Aber wenn Künstler aus anderen Staaten nach Israel kommen, sende das eine falsche Botschaft. Trotz der Besatzung und all den Ungerechtigkeiten auf israelischer Seite zeige man damit noch immer die Bereitschaft, "Freunde" zu sein. "Die Musiker beantragen ein Visum und die Israelis können entscheiden, welche Künstler ihnen genehm sind und welche nicht", sagt die 31-jährige Fayrouz. Das aber unterwandert in ihren Augen den Boykott. Ein Werkzeug, um Druck aufzubauen und Unrecht zu stoppen, wie Fayrouz sagt. Sie ist sicher: Als junger Palästinenser solle man lieber das Recht aufgeben, ein Live-Konzert "physisch zu besuchen".
http://www.youtube.com/watch?v=J5wO0zsq5XM&feature=youtu.be Im Kurzinterview erzählt Fayrouz, was ihr "25 Jahre Palästina" bedeuten
Diese strikte Blockade-Haltung stößt bei anderen auf Kritik. "Wir unterstützen den Boykott natürlich, aber man muss auch immer den richtigen Kontext sehen", sagt etwa der 26-jährige Ayed aus Haifa. Er ist Mitglied der Jazar Crew, einem der wichtigsten palästinensischen Künstlerkollektive des Landes. Seit einigen Jahren organisiert er Konzerte, Kunstveranstaltungen und Partys für Palästinenser in Israel. Immerhin mehr als 20 Prozent der Bevölkerung sind Araber.
Deren Nachwuchs höre jeden Tag kommerzielle hebräische und englische Musik im Radio und verliere den Kontakt zur eigenen Kultur. Eine Kultur, die die Jazar Crew ihnen wieder zeigen will. "Deshalb wollen wir, dass Künstler wie Autostrad herkommen. Wir brauchen den Austausch", sagt er. Solange arabische Bands in Israel vor Palästinensern spielen wollten, sollten sie die Möglichkeit dazu haben – trotz Boykott. "Wenn Madonna oder Coldplay hier auftreten und die Besetzung damit de facto anerkennen, dann sind wir die ersten, die gegen die Konzerte auf die Straße gehen", so Ayed. Ähnlich sehen es auch die Musiker von Autostrad selbst. "Ich glaube, dass der Boykott von arabischen Veranstaltungen den Leuten das Recht nimmt, mehr über ihre Kultur und ihr Leben als Araber zu erfahren", sagt Gitarrist Yazan.
Trotz israelischer Einreisegenehmigung lief die Tour für Autostrad am Ende glimpflich ab. Die Band suchte mit ihren Kritikern die Diskussion. "Das sind Leute, die ich als meine Freunde bezeichne", sagt Ayed von der Jazar Crew. "Es ist gut, dass wir auch mal verschiedene Meinungen zu unserem gemeinsamen Ziel haben. Jetzt diskutieren wir, statt aufeinander loszugehen." Für Bandmanagerin Shermine und die Band ist klar: "Wir dürfen die Menschen in 48 nicht vergessen." Die Zahl 48 ist eine Anspielung von Arabern auf Israel. Sie bezieht sich auf den Unabhängigkeitskrieg von 1948. Nach den Kämpfen blieben nur einige Palästinenser im damals neuen israelischen Staat zurück. Aus vielen Stereoanlagen ihrer Kinder und Enkel schallen heute die Beats von Autostrad. Immer wieder die Worte: "Mom, wir sind Gefangene!"
Eigentlich kommt die Gruppe aus Jordanien. Ihre Fans verehren sie aber in der ganzen Region: im Libanon, in Syrien, im Westjordanland und in Israel. Für diese Menschen wollten sie spielen. "Hunderte Palästinenser haben aus Israel und den besetzten Gebieten geschrieben. Sie wünschten sich Autostrad auf der Bühne", sagt Managerin Shermine. Also fing die 30-Jährige mit der Planung an. Die Band packte Schlagzeug und Gitarren in einen Kleinbus und besorgte sich Auftrittsgenehmigungen und Einreisevisa. Dann überquerte sie die Grenze Richtung Israel. Es ging um Gigs in kleinen Hallen und Clubs in Haifa, Jerusalem, Ramallah und Nazareth. Eine ganz normale Tour. Aber im Land des Nahost-Konflikts kann schon das Wort "normal" zu einem riesigen Problem werden.
Denn plötzlich fand sich Autostrad in der Mitte eines Streits unter jungen Palästinensern wieder. Ihr Auftritt, so beschwerten sich viele, schade der Sache und helfe den Israelis. Aufgebrachte Aktivisten kamen sogar zum Konzert in Haifa und verteilten Flyer. Im arabischsprachigen Twitter verbreitete sich ein Hashtag, der ungefähr mit "Come after it is liberated" übersetzt werden kann. Immer wieder hieß es: Eure Auftritte helfen nicht. Ihr untergrabt den Boykott. Ihr zementiert die "Normalisierung", weil ihr mit den Israelis zusammenarbeitet. Nur wegen ein paar Live-Auftritten. Schon lange befürchten Aktivisten, dass ihre palästinensischen Landsleute vergessen. Dass die Besatzung des Westjordanlands zur einzigen Realität geworden ist – sich der momentane Zustand in den Köpfen von jungen Palästinensern "normalisiert" hat.
Die jordanische Band Autostrad spielt auch in Israel - zum Ärger der BDS-Bewegung
"Wir müssen uns fragen, wer von so einer Entwicklung profitiert. Das sind sicher nicht wir als Palästinenser", sagt Fayrouz Sharqawi von der Organisation Grassroots Jerusalem. Sie betreut und vernetzt junge Aktivisten rund um Jerusalem, macht sie untereinander bekannt, hilft bei der Planung von gemeinsamen Aktionen. Sie findet: Die Palästinenser müssten immer wieder wachgerüttelt werden. Ein großer Teil von ihnen sei immerhin erst nach 1967 geboren worden. Damals annektierte Israel sowohl das Westjordanland als auch den Gaza-Streifen. Die jungen Leute, so die Sorge, haben nie einen anderen Zustand kennengelernt als die Besatzung. Mehr noch: Sie könnten den Glauben an ein eigenes Land Palästina verlieren.
25 Jahre ist es her, seit Jassir Arafat als Anführer der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) den eigenen Staat ausrief. Ein Viertel-Jahrhundert später verhandeln Politiker von beiden Seiten noch immer über den Frieden. Noch immer um die Zweistaatenlösung. Doch wieder stocken die Bemühungen. Der Status Quo zwischen Israel und den besetzten Gebieten könnte zu einem Zustand für die Ewigkeit mutieren, so befürchten viele.
Seit 2005 wächst deshalb die Unterstützung für die Bewegung Boycott, Divest and Sanctions (BDS). Für ihre Anhänger gibt es nur einen Weg, diese Normalisierung zu verhindern: den Boykott. Sie wollen jegliche Zusammenarbeit mit Israel in ökonomischen, kulturellen und akademischen Angelegenheiten einfrieren. Es gibt keine Studentenaustausche mehr, NGOs, die die Besatzung nicht ausdrücklich ablehnen, werden ausgesperrt. Auch die Zusammenarbeit mit israelischen Behörden verweigern BDS-Anhänger grundsätzlich. Mittlerweile zieht der Protest weltweit Kreise, zahlreiche Unternehmen haben die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Israel gekündigt. Studentenschaften und Unis setzen Austauschprogramme aus.
Auch die Band Autostrad bekommt den Boykott zu spüren. "Ich habe nichts gegen die Musik der Gruppe. Es geht ums Prinzip", sagt Fayrouz von Grassroots Jerusalem. Aber wenn Künstler aus anderen Staaten nach Israel kommen, sende das eine falsche Botschaft. Trotz der Besatzung und all den Ungerechtigkeiten auf israelischer Seite zeige man damit noch immer die Bereitschaft, "Freunde" zu sein. "Die Musiker beantragen ein Visum und die Israelis können entscheiden, welche Künstler ihnen genehm sind und welche nicht", sagt die 31-jährige Fayrouz. Das aber unterwandert in ihren Augen den Boykott. Ein Werkzeug, um Druck aufzubauen und Unrecht zu stoppen, wie Fayrouz sagt. Sie ist sicher: Als junger Palästinenser solle man lieber das Recht aufgeben, ein Live-Konzert "physisch zu besuchen".
http://www.youtube.com/watch?v=J5wO0zsq5XM&feature=youtu.be Im Kurzinterview erzählt Fayrouz, was ihr "25 Jahre Palästina" bedeuten
Diese strikte Blockade-Haltung stößt bei anderen auf Kritik. "Wir unterstützen den Boykott natürlich, aber man muss auch immer den richtigen Kontext sehen", sagt etwa der 26-jährige Ayed aus Haifa. Er ist Mitglied der Jazar Crew, einem der wichtigsten palästinensischen Künstlerkollektive des Landes. Seit einigen Jahren organisiert er Konzerte, Kunstveranstaltungen und Partys für Palästinenser in Israel. Immerhin mehr als 20 Prozent der Bevölkerung sind Araber.
Deren Nachwuchs höre jeden Tag kommerzielle hebräische und englische Musik im Radio und verliere den Kontakt zur eigenen Kultur. Eine Kultur, die die Jazar Crew ihnen wieder zeigen will. "Deshalb wollen wir, dass Künstler wie Autostrad herkommen. Wir brauchen den Austausch", sagt er. Solange arabische Bands in Israel vor Palästinensern spielen wollten, sollten sie die Möglichkeit dazu haben – trotz Boykott. "Wenn Madonna oder Coldplay hier auftreten und die Besetzung damit de facto anerkennen, dann sind wir die ersten, die gegen die Konzerte auf die Straße gehen", so Ayed. Ähnlich sehen es auch die Musiker von Autostrad selbst. "Ich glaube, dass der Boykott von arabischen Veranstaltungen den Leuten das Recht nimmt, mehr über ihre Kultur und ihr Leben als Araber zu erfahren", sagt Gitarrist Yazan.
Trotz israelischer Einreisegenehmigung lief die Tour für Autostrad am Ende glimpflich ab. Die Band suchte mit ihren Kritikern die Diskussion. "Das sind Leute, die ich als meine Freunde bezeichne", sagt Ayed von der Jazar Crew. "Es ist gut, dass wir auch mal verschiedene Meinungen zu unserem gemeinsamen Ziel haben. Jetzt diskutieren wir, statt aufeinander loszugehen." Für Bandmanagerin Shermine und die Band ist klar: "Wir dürfen die Menschen in 48 nicht vergessen." Die Zahl 48 ist eine Anspielung von Arabern auf Israel. Sie bezieht sich auf den Unabhängigkeitskrieg von 1948. Nach den Kämpfen blieben nur einige Palästinenser im damals neuen israelischen Staat zurück. Aus vielen Stereoanlagen ihrer Kinder und Enkel schallen heute die Beats von Autostrad. Immer wieder die Worte: "Mom, wir sind Gefangene!"