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Krank vor Überfluss

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Bist du ein Affluenza-Kid? Wenn du dich bei diesen drei Phänomenen (hier die vollständige Liste zur Selbstdiagnose) angesprochen fühlst, wohl schon:

1. Ich bin bereit, mehr für ein T-Shirt zu bezahlen, wenn ein cooles Markenlogo darauf ist.
2. Ich möchte mir ein SUV kaufen, obwohl ich nie im Gelände Auto fahre. 
3. Wenn mir kalt ist, ziehe ich Kleider aus und drehe die Heizung auf.

Affluenza, was heißt das eigentlich?


Der Begriff Affluenza setzt sich zusammen aus "affluence", Englisch für Wohlstand, und "Influenza", zu Deutsch Grippe. Der Theorie nach verspüren Affluenza-Kids den Drang, immer mit dem Nachbarn mithalten zu müssen und eine Sucht nach wirtschaftlichem Reichtum. Der Begriff steht in enger Verbindung zum Konsumismus und wird auch "Zeitkrankheit Konsum" genannt.

Heutzutage ist es ja in Mode, alles zu pathologisieren und jedes auffällige Verhalten als Krankheit abzustempeln. Doch im Falle der Affluenza-Kids könnte tatsächlich mehr dahinter stecken. Das zeigt das Beispiel von Ethan Couch, eines 16-jährigen Texaners, der sinnbildlich steht für eine Generation amerikanischer Rich Kids.

Vier Tote, zwei Verletzte, null Schuldgefühle


Ethan Couch feierte gern Partys mit seinen Freunden. Trinken und Spaß haben gehörte dazu, Bier und das Auto seines Vaters klauen wohl auch. Und genau das wurde ihm zum Verhängnis: Er überfährt vier Menschen, die an ihren Verletzungen sterben, und verletzt zwei weitere. In seinem Blut fand man noch drei Stunden nach dem Unfall hohe Konzentrationen an Alkohol und Valium.

Im Dezember 2013 verurteilte ihn ein Richter zu 10 Jahren - allerdings nicht im Gefängnis, sondern in einer Rehabilitations-Klinik. Den Aufenthalt bezahlen seine Eltern, schlappe 700 Dollar pro Tag. Der Anwalt argumentierte, dass Couch nicht ins Gefängnis gehöre, sondern in eine psychologische Betreuung; er leide schließlich an Affluenza. Ein von der Familie engagierter Psychologe attestierte, dass der Junge nicht in der Lage sei, die Konsequenzen seines Handelns einzuschätzen, weil seine Eltern ihm das nie beigebracht hätten. Das fehlende soziale Verantwortungsgefühl und seine Haltung, dass mit Geld alles zu erreichen sei, sprächen genau dafür.

Ist Affluenza also ein Freifahrtschein für Straftaten? Der Begriff suggeriert Ansteckung und Gefahr. Tatsächlich hat das Phänomen aber auch soziologische Wurzeln in der amerikanischen Gesellschaft: ein verschwenderischer Lebensstil, der auf Abgrenzung und Statusmerkmale bedacht ist, mehrere Autos, größere Häuser, dazu Fernsehserien wie O.C. California, bei denen es um angeblich erstrebenswerte Oberflächen geht. Kombiniert mit mangelnder Zuwendung für das eigene Kind, Abgabe von Verantwortung und einer schlechten Erziehung führt das zu dem, was in Deutschland als Wohlstandsverwahlosung bekannt ist. Im Gegensatz zu Affluenza beschreibt dies aber keine psychologische Störung, die vor Gericht anerkannt würde. 

Bereits Ende der 90er Jahre reagierte der amerikanische Sender PBS darauf und strahlte John le Graafs gleichnamige TV-Show "Affluenza" aus. Darin reisen die Macher durch Amerika und zeigen dem Publikum Menschen, die weniger arbeiten und einkaufen, aber dafür mehr Zeit mit der Familie und Freunden verbringen oder sich ehrenamtlich engagieren. Lebenswertere Leben also. Auch das 2014 erschienene Kinodrama "Affluenza" thematisiert das Phänomen am Beispiel der Wohlstandsgegend Long Island.

Interessanterweise gab es aber auch Gegenrede bei der Verurteilung von Couch: Die Psychologin Suniya Luthar sagte, die Forschung zeige, dass ein Doppel-Standard zwischen Armen und Reichen gesetzt werde: "Wie groß wäre die Wahrscheinlichkeit, dass der Richter das Verhalten eines Afro-Amerikaners, der in einer brutalen Umgebung aufwuchs und dessen Mutter drogenabhängig war, so wie bei Couch beurteilen würde, nur weil er so sozialisiert wurde?" Ein anderer Psychologe pflichtete ihr bei und argumentierte, dass Couch – indem er eben nicht in einer luxuriöse Rehabilitationsanstalt gekommen wäre – hätte lernen müssen, dass Geld und Privilegien nicht die negativen Konsequenzen von kriminellem Handeln verhindern können.

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