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Gefahr im Detail

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Täglich kommen Verbraucher mit ihnen in Kontakt. Wir essen und trinken sie, schmieren sie uns ins Gesicht und tragen sie am Körper. Und das seit Jahrzehnten. Sie sind omnipräsent. Denn ihr Einsatz spart Produktherstellern Kosten und bietet unerschöpfliche Möglichkeiten, wenn es etwa um Effizienz und Innovation geht. Selbst ein herkömmliches Mikroskop kann sie kaum erfassen – so winzig klein sind die Teilchen. Die Rede ist von Nanomaterialien. Bei allen Vorteilen, die sie bieten: Mögliche negative Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen sind nicht ausgeschlossen. Verbraucherschützer sehen die Technologie deswegen äußerst kritisch.

Die Vorsilbe „Nano“ leitet sich aus dem griechischen Wort für Zwerg ab. Die industriell hergestellten Teilchen, die meist aus Kohlenstoff oder Metallatomen bestehen, haben eine Größenordnung von einem Milliardstel eines Meters. Zur besseren Einordnung der winzigen Dimension: Ein menschliches Haar ist 70000 Nanometer dick. Die vielen Verfahren zur Herstellung dieser kleinsten Partikel, die bis zu 100 Nanometer umfassen, fallen unter den Oberbegriff Nanotechnologie. Dank ihrer winzigen Größe können Nanopartikel Strukturen und Oberflächen verändern. So lassen sie brüchiges Material hart werden oder verbinden Moleküle, die sich sonst abstoßen. Im Vergleich zu konventionellen Stoffen sind Nanoteilchen leichter, widerstandsfähiger und teils kostengünstiger in der industriellen Anwendung sowie in der Verarbeitung von Verbraucherprodukten.

Mit ihren speziellen Eigenschaften schützen Nanopartikel die Haut vor UV-Strahlen, sie schützen vor Gerüchen und Bakterien in Schuhen und Socken, lassen Zähne makellos strahlen und tragen dazu bei, dass Lebensmittel auch nach vier Wochen noch genießbar sind. Die kleinen Teilchen stecken nicht nur in Cremes, Zahnpasta, Textilien oder in Lebensmittelverpackungen. Ihre Wirkung ist auch in anderen Bereichen beachtlich. Als Filter entgiften sie von der Industrie verunreinigtes Wasser oder binden Schadstoffe in Automotoren. Sie erhöhen die Leistung von Windkraftanlagen und Solarzellen bei geringeren Herstellungskosten und verbessern die Wirksamkeit und Dosierbarkeit von Medikamenten. Von ihrem Einsatz in verschiedenen Industriezweigen versprechen sich Wirtschaft und Politik Gewinne in Milliardenhöhe sowie große Chancen für Gesundheit und Umwelt.

Bereits seit Jahrzehnten setze die Industrie Nanomaterialien als „billiges Routinematerial“ in Smartphones, Autos, Textilien, Elektronik, Küchengeräten, Lack, Farben, Kleber, Verpackungen, Kosmetik und als Dünger und Pflanzenschutz in der Landwirtschaft ein, bestätigt Harald Krug, Toxikologe und Mitglied der internationalen Expertengruppe der europäischen Sicherheitsforschung, Nano Safety Cluster. Seit mehr als 80 Jahren nutzt allein die Automobilbranche Materialien und Verfahren im Bereich der Nanoforschung, um etwa Lacke kratzfester und Fahrzeuge umweltfreundlicher herzustellen.

Doch Nano hat längst auch die Nahrungsmittelindustrie erreicht. Solange keine ausreichenden Sicherheitsdaten vorliegen, die ein Risiko für den Menschen ausschließen, lehnen Verbraucherzentralen den Einsatz von Nanomaterialien in Alltagsprodukten ab. „Die Nanotechnologie mag in einigen Bereichen wie in der Umwelt Potenziale besitzen, doch im Lebensmittelbereich ist sie unnötig“, sagt Sarah Häuser vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Nicht nur die Risiken seien ungeklärt, auch die Vorteile zweifelhaft. „Die Nanoverkapselung zum Beispiel ermöglicht den Zusatz von Vitaminen in eigentlich ungesunden Lebensmitteln wie Chips und Limo“, so Häuser. Abgesehen davon, dass zusätzliche Vitamine bei gesunder Ernährung unnötig seien, bestehe hier die Gefahr einer Überdosierung.

Ob industriell hergestellte Nanomaterialien oder Produkte, die solche enthalten, ein gesundheitliches Risiko für den Verbraucher darstellen, ist dem Bundesinstitut für Risikoforschung zufolge wissenschaftlich noch gar nicht abschließend geklärt. Bislang wurden toxische Effekte von synthetisch hergestellten Nanopartikeln nur in Tierversuchen und an Zellkulturen untersucht und zum Teil bestätigt. Allerdings unterschieden sich sowohl die Versuchsansätze als auch die getesteten Nanopartikel erheblich. Folglich seien die Ergebnisse kaum vergleichbar, die Übertragbarkeit auf den Menschen sei begrenzt.

Und doch: Eine Gefahr ist nicht auszuschließen. Bisherige Tierversuche weisen darauf hin, dass die Teilchen Nieren, Leber und Lunge angreifen können. Wissenschaftler in der Schweiz haben bereits 2010 herausgefunden, dass Nanopartikel ungehindert in den Blutkreislauf von Ungeborenen dringen können.

Bislang hinkt die Risikoforschung der Marktentwicklung hinterher. „Genügend Fördermittel haben wir, aber das nützt wenig, wenn es an geeigneten Experten mangelt“, kritisiert Harald Krug von der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt in St. Gallen. Der Toxikologe arbeitet an der Auswertung von etwa 6600 internationalen Studien zur Gefährlichkeit von Nanopartikeln, finanziert vom Verband der Chemischen Industrie. 60 bis 70 Prozent der Studien seien qualitativ mangelhaft und nicht aussagekräftig. „Es fehlt uns schlichtweg der Nachwuchs.“ Nicht nur in der Schweiz: In den vergangenen 20 Jahren sind etwa die Hälfte aller Lehrstühle im Bereich Toxikologie an deutschen Universitäten verschwunden.

Etwa 1100 deutsche Unternehmen beschäftigen sich gerade mit dem Einsatz der Nanotechnik in Bereichen der Forschung und Entwicklung sowie der Vermarktung kommerzieller Produkte und Dienstleistungen. So steht es im Bundesbericht 2013 zur Nanotechnologie in Deutschland. Die Hälfte der Firmen geht von steigenden Forschungsinvestitionen aus. Ihr Gesamtumsatz im vergangenen Jahr wird auf etwa 15 Milliarden Euro geschätzt. Damit produziert bereits die Hälfte aller in Europa ansässigen Firmen, die auf Nanotechnologie-Produkte ausgelegt sind, in Deutschland.

Unter den deutschen Firmen, die im Bereich Nanotechnologien und Nanomaterialien forschen, befinden sich unter anderem der Automobilhersteller BMW, der Chemiekonzern BASF, der Nahrungsergänzungsmittel herstellt, und der Pharmakonzern Bayer. Nach Angaben des BUND forschen 29 Lebensmittelkonzerne wie Unilever und Kraft Foods in eigenen Laboren, weil sie sich lukrative Geschäfte versprechen. Vielen Teilbereichen der Nanotechnologie werden hohe Wachstumsraten prognostiziert. Mit einem Zuwachs von jährlich 19 Prozent schätzt das BMBF den Gesamtmarkt von Nanomaterialien bis zum Jahr 2017 auf etwa 29,7 Milliarden Euro.

„Die Nanotechnologie gehört ohne Zweifel zu den aussichtsreichsten Technologie- und Forschungsfeldern des 21. Jahrhunderts“, verkündete Thomas Rachel, Parlamentarischer Staatssekretär vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bereits 2008 zum Start des Aktionsplans Nanotechnologie. Das ist nun sieben Jahre her, aber immer noch aktuell. Der mit jährlich etwa 220 MillionenEuro ausgestattete Aktionsplan zielt seither darauf ab, Forschungsergebnisse schnell in Produkte umzusetzen und damit mehr Unternehmen an die Nanotechnologie heranzuführen. Etwa acht Prozent davon entfallen auf die Risikoforschung.

Mit hohen Investitionen steht der Bund im Bereich Nanotechnologie seit Jahren an Europas Spitze. Während die EU im Zuge des siebten EU-Forschungsprogramms 2012 etwa 741 Millionen Euro an öffentlichen Fördermitteln für Nanotechnologie vergab, investierten Bund und Länder im selben Jahr an die 630 MillionenEuro aus mehreren Fördertöpfen. Allerdings besitzen die EU und Deutschland jeweils unterschiedliche Förderstrukturen. Weltweit konkurrieren neben Deutschland die USA, China und Japan um die Forschungsspitze im Bereich der Nanotechnologie.

In der EU müssen Nanomaterialien in Kosmetikprodukten, in Biozidwirkstoffen (etwa in Putz- und Reinigungsmitteln) und seit Kurzem auch in Lebensmitteln gekennzeichnet werden. Einige Mitgliedsstaaten, darunter Frankreich, Belgien, Dänemark und die Schweiz, betreiben bereits oder planen eine Nano-Produktdatenbank.

Das negative Image von Nanomaterialien beim Verbraucher und eine Kennzeichnungspflicht wie bei Kosmetika und Lebensmitteln setzen die Hersteller unter Druck. Die Folgen könnten rückschrittlich sein, befürchtet Harald Krug. Wie zum Beispiel bei der Kennzeichnungspflicht für Kosmetika, die er als einen „Kampf gegen Windmühlen“ beschreibt. „Hier wird die Industrie womöglich auf chemische Filter als Nanoersatz zurückgreifen, die umweltbelastend und gesundheitsschädlich eingestuft sind.“
 

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