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Apple n'est pas Charlie

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Es war Freitagabend, die Mail ging an einen der mächtigsten Männer der Welt, und eigentlich hatten die Verfasser keine Chance. „Mon cher Tim Cook“, begannen die zwei jungen Programmierer aus Frankreich, „ohne viel Hoffnung schreiben wir Ihnen“.  Doch keine zehn Minuten später antwortete ein Mitarbeiter des Apple-Chefs: „Klasse Idee, Jungs, genauso machen wir es!“

Die beiden jungen Informatiker haben geschafft, woran viele große Firmen vor ihnen gescheitert sind: Ihre App wurde innerhalb einer Stunde in den iTunes-Store von Apple aufgenommen, normalerweise dauert dieser Vorgang rund zehn Tage. Sie hatten Tim Cook gebeten, eine Ausnahme zu machen, denn im Unterschied zu anderen Entwicklern wollen sie mit ihrer Arbeit kein Geld verdienen, und in einer Woche wäre es längst zu spät für ihre App gewesen: Sie heißt schlicht „Je suis Charlie“, ist kostenlos für iOS und Android erhältlich und dient genau einem Zweck:

Because „Je suis Charlie” has become the symbol of freedom of speech whatever your beliefs, your country and your opinions, download the „I am Charlie” app and simply state where you stand on today's world map.


We will show we stand united together across the world
„We are all CHARLIE“
[plugin imagelink link="https://itunes.apple.com/us/app/id957141390?mt=8" imagesrc="http://rack.2.mshcdn.com/media/ZgkyMDE1LzAxLzEyLzBhL2plc3VpZGNoYXJsLmNlYmQ4LmpwZwpwCXRodW1iCTEyMDB4OTYwMD4/8c768f6e/d87/je-suid-charlie-app.jpg"]Die "Je suis Charlie"-App auf dem iPhone


Eine schöne Geschichte - mit fadem Beigeschmack

Man kann geteilter Meinung sein, ob man sich kollektiv mit Charlie Hebdo solidarisieren muss, und man kann darüber streiten, ob der Satz „Je suis Charlie“ die gelungenste Form der Anteilnahme ist. Die Geschichte der französischen Entwickler ist trotzdem schön. 18 Stunden haben die beiden ununterbrochen programmiert, so sagen sie, nachdem sie die Antwort aus Palo Alto bekommen hatten, bis am Samstag endlich die erste Version der App fertig war. 89.000 Menschen weltweit sollen sich bis gestern auf der Je-suis-Charlie-Karte eingetragen und so ein Zeichen für Meinungsfreiheit gesetzt haben.

Soweit der schöne Teil der Geschichte. Der unschöne Teil beginnt, wo Apple ins Spiel kommt. Natürlich spricht überhaupt nichts dagegen, dass die „Je suis Charlie“-App in Rekordzeit in den iTunes-Store aufgenommen wurde. Allerdings wundert einen das ziemlich, wenn man genauer betrachtet, wie es Apple sonst so mit der Freiheit der Rede und des Ausdrucks hält.

Während eine App, die den ermordeten Redaktionsmitgliedern von Charlie Hebdo kondoliert, statt zehn Tagen nur eine Stunde warten muss, hätte eine App von Charlie Hebdo selbst wohl jahrelang warten können, und wäre trotzdem nicht von Apple vertrieben worden. Diesen Vorwurf macht jedenfalls der amerikanische Cartoonist Mark Fiore gegenüber ReadWrite: „What makes my skin crawl is that most of the stuff Charlie Hebdo does, Apple wouldn't approve.“

Doppelmoral im Silicon Valley

Er selbst habe 2009 versucht, eine App mit seinen – im Vergleich zum bissigen, bisweilen bösartigen Spott von Charlie Hebdo – völlig harmlosen Zeichnungen im Apple Store anzubieten und sei auf Granit gestoßen: Seine App enthalte „obszöne, pornographische oder verleumderische Inhalte“. Erst, als Fiore ein Jahr später den Pulitzer Preis gewann und Apples Ablehnung öffentlich diskutiert wurde, lenkte Tim Cook ein und erlaubte den Verkauf.

Diese Doppelmoral steht stellvertretend für viele Unternehmen im Silicon Valley. Mark Zuckerberg gefällt sich selbst als Verfechter der Pressefreiheit und schreibt mit einer gehörigen Portion Pathos von Facebook als Ort der freien Meinungsäußerung – während seine Firma Instagram gleichzeitig jeden nackten Nippel zensiert, Postings syrischer Widerstandsgruppen löscht, russische Oppositionelle bevormundet, sich bereitwillig dem Regime in China andient und tibetische Freiheitskämpfer von Facebook verbannt und offensichtlich auf gute Beziehungen mit dem türkischen Premier Erdogan erpicht ist.







A photo posted by @campsucks on Jan 11, 2015 at 3:15pm PST




#Freethenipple: Lena Dunham protestiert gegen Instagrams Zensur - auf Instagram

Twitter, dessen französischen Account zwischenzeitlich ein #JeSuisCharlie-Banner zierte, ist nicht unbedingt als Gralshüter der Meinungsfreiheit bekannt. Und auch Google, das kurzfristig 300.000 Dollar spendete, um der aktuellen Ausgabe von Charlie Hebdo zu einer Millionen-Auflage zu verhelfen, musste sich in der Vergangenheit schon oft mit Zensur-Vorwürfen auseinandersetzen.

Von Mark Zuckerbergs selbstgefälligem Posting abgesehen ist gegen keine dieser Reaktionen etwas einzuwenden. Trotzdem: Dieser Tweet sollte nicht nur dreimal, sondern besser dreitausend Mal retweetet werden – denn die Frage ist wichtig.


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