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Archaische Übergriffe

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Die Frauen, die in diesen Lagern dahinvegetieren, haben es immerhin geschafft, Schlimmerem zu entgehen: einem Tod durch Verbrennen, Erschlagen oder Ertränken. Nach oft tagelangen Fußmärschen haben sie Zuflucht bei Schicksalsgenossinnen gefunden, fernab ihrer Familien und Dorfgemeinschaften. Ihr Vergehen: Sie haben anderen angeblich Leiden wie Übelkeit oder Schlangenbisse zugefügt, sie sollen Dürren oder Brände ausgelöst haben, schuld sein am beruflichen Scheitern eines Nachbarn, oder sie sind schlicht irgendwem im Traum erschienen. Deshalb sind sie nach allgemeiner Auffassung der Hexerei mächtig und stellen für die Gemeinschaft eine Gefahr dar, die es zu beseitigen gilt.



Im Norden Ghanas ist der Hexenglaube fest verwurzelt. Nach Schätzungen leben über tausend ausgestoßene Frauen zusammen mit ihren Kindern und Enkelkindern in sogenannten Hexendörfern.

Sechs größere sogenannte Hexendörfer gibt es im Norden von Ghana, jenem Land in Westafrika, das als eines der stabilsten und wirtschaftlich aufstrebendsten der Region gilt, in dem jedoch eine Mehrheit der Menschen bis heute an Hexerei glaubt. Nach Schätzungen leben mehr als tausend Frauen in den Lagern, manche bereits seit Jahrzehnten, und mit ihnen oft Kinder oder Enkelkinder, fernab jeglicher Chancen auf Schulbildung, notdürftig versorgt von Kirchen und Hilfsorganisationen.

Nicht zufällig liegen die Lager vor allem im Norden Ghanas, der ärmsten Region. Während in den Großstädten das Phänomen zurückgeht, befeuern Armut und Bildungsmangel in entlegenen Dörfern den traditionellen Hexenglauben weiter. Oft sind Neid und Eifersucht der Anlass, Frauen unter dem Vorwand des Hexerei-Vorwurfs zu verfolgen. Mitunter sind die Opfer auch ältere Frauen, deren Arbeitskraft schwindet und die deshalb von ihren Familien als Belastung empfunden werden.

Die Regierung in der Hauptstadt Accra hatte sich dem Kampf gegen derlei archaische Übergriffe bereits vor Jahren verschrieben und angekündigt, die sogenannten Hexendörfer auflösen zu wollen. Doch Helfer warnten vor übereilten Schritten und verwiesen auf viele Fälle, in denen Frauen nach zeitweiliger Rückkehr zu ihren Familien erneut in den Lagern aufgetaucht waren. Deshalb hat das zuständige Ministerium eigens eine Kommission für die Wiedereingliederung der angeblichen Hexen eingesetzt, deren Arbeit, glaubt man der offiziellen Darstellung, nun Früchte trägt: Eines der Hexendörfer namens Bonyasi werde in diesen Tagen geschlossen, hat die Regierung jetzt verkündet; die 55 Frauen darin, zwischen 48 und 90Jahre alt, würden wieder mit ihren Familien zusammengeführt.

Die Aktion war längere Zeit vorbereitet worden, in Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen, die die Frauen seit Jahren unterstützen. Zudem waren Verhandlungen mit den traditionellen Autoritäten in der Region nötig. Die Kinder, die an der Seite der Frauen jahrelang in dem Lager gelebt haben, sollen nun schnellstmöglich auf Schulen geschickt werden.

Es sei inakzeptabel, dass Frauen auf derartige Weise „entmenschlicht“ würden, sagte die Ministerin für Frauen, Familie und Soziales, Nana Oye Lithur, eine frühere Menschenrechtsanwältin, die schon mehrmals mit Vorstößen gegen archaische Traditionen und Denkmuster aufgefallen ist. So warb sie etwa für mehr Akzeptanz von Schwulen und Lesben, und dies in einer Gesellschaft, in der Homosexualität wie in der Mehrheit der afrikanischen Länder stark geächtet ist. Als sie Anfang 2013 zur Ministerin ernannt wurde, beschuldigten Mitglieder der Opposition und evangelikale Geistliche den neuen Präsidenten John Mahama, durch diese Personalentscheidung die Homosexualität im Land zu „fördern“.

Doch von dem Widerstand, den sie auch im Kampf gegen den Hexenglauben erfährt, will sich Nana Oye Lithur nicht entmutigen lassen. Die Schließung des Lagers von Bonyasi sei nur der erste Schritt; die weiteren Hexendörfer im Land habe man bereits „identifiziert“ und arbeite im Dialog mit traditionellen Anführern der Gemeinschaften daran, die Dörfer in naher Zukunft aufzulösen und die vermeintlichen Hexen wieder zu vollwertigen Mitglieder der Gesellschaft zu machen. „Frauen sind das Rückgrat dieser Gesellschaft“, so die Ministerin, „und wir müssen ihnen die nötige Unterstützung geben, damit sie ihren Beitrag zur Entwicklung unseres Landes leisten können.“

Kritiker begrüßten den Schritt der Regierung und verwiesen auf die weiteren Herausforderungen, vor denen das Land im Hinblick auf die Rechte von Frauen noch stehe. So würden bis heute häufig Minderjährige verheiratet, und in manchen Gegenden werde trotz aller Fortschritte noch immer die Genitalverstümmelung von Mädchen praktiziert.

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