1. Das Web des Gruppenzwangs
2014 war das Jahr einer besonderen Art der Mitmach-Meme. Man könnte auch sagen: das Jahr des Gruppenzwangs 2.0. Meme lebten immer schon davon, dass Menschen sie weiterverbreiten, oft mit einem individuellen Weiterdreh. Viele Meme des Jahres 2014 hatten eine neue Komponente: das Nominieren. Und dadurch den Zwang. Das Prinzip war immer dasselbe: Person A tut etwas und dokumentiert es auf Facebook. Im gleichen Post nominiert sie eine oder mehrere andere Personen, es ihnen gleich zu tun.
Zuerst kippten weltweit im „Social Beer Game“ sehr viele Menschen sehr viele Biere in einem Zug in ihre Rachen. Eine noch selbstzerstörerische Variante war die Fire Challenge, in der sich Menschen (die keine Stuntmen waren) gegenseitig dazu nominierten, sich mit brennbarer Flüssigkeit zu begießen und anzuzünden. Es folgte weiteres Übergießen, aber in der wohltätigen und deshalb noch wesentlich populäreren und sogar politikertauglichen Variante: der Ice Bucket Challenge. Dann bog der Trend plötzlich in intellektuelle Gefilde: DJs posteten die Alben, die sie am meisten inspiriert hatten und fragten ihre Kollegen nach ihren musikalischen Meilensteinen. Literaturbegeisterte und solche, die als welche gelten wollten, taten dasselbe mit Büchern.
Alles Selbstläufer, die ihren Erfolg einem Twist der sozialen Netzwerke verdankten, der so vorher nie so zum Tragen gekommen war. Bisher posteten die Menschen dort etwas, weil sie wollten, dass jemand sieht, was sie tun. Jetzt mussten sie plötzlich Sachen posten, damit nicht jeder sehen konnte, was sie nicht tun.
2. Youtuber sind im Mainstream angekommen
Simon Unges youtube-Kanal ist erst ein paar Tage alt. Bislang ist dort nur ein Video zu sehen. Trotzdem hat Simons Kanal schon knapp eine halbe Million Follower.
Unge ist einer von Deutschland bekanntesten Youtubern. Er hat am Wochenende seinen Vertrag mit Mediakraft Networks gekündigt, einer Art Produktionsfirma für Youtuber. Jetzt macht er alleine weiter - und gibt Youtube-Kanäle auf, mit denen er 30 Millionen Menschen im Monat erreicht.
Simon Unge ist im Jahr 2014 nur das aktuellste Beispiel dafür, dass Youtuber eine neue Macht im Netz und mittlerweile im Mainstream angekommen sind. Klar, es gibt sie schon länger, und klar, und einige von ihnen haben schon seit längerem View-Zahlen, von denen so manche TV-Sendung nur träumen kann. Aber seit diesem Jahr nimmt man sie wirklich ernst, und zwar als das, was sie wahrscheinlich sind: die Zukunft. Für junge Leute ist das Fernsehen nicht mehr zwangsläufig Bewegtbildmedium Nummer eins, sie holen sich Unterhaltung und Information auf Youtube. In den USA sind Youtube-Stars zum Teil beliebter als Hollywood-Größen, schreibt Variety in einer Titelgeschichte über Youtuber und ihre Auswirkungen auf das Berühmtheitsbusiness.
In Deutschland schrieb im Herbst so gut wie jede Tageszeitung eine Geschichte über Deutschlands Youtube-Landschaft, denn der Publikumspreis des Grimme Online Awards ging an Florian Mundt und seinen hysterisch-überdrehten-Nachrichten-Youtube-Kanal LeFloid. Auch er ist seit einer Weile alleine ohne Produktionsfirma im Geschäft, ein weiteres Zeichen des neuen Selbstvertrauens der Youtuber. Und seit kurzem ist er Werbegesicht einer großen deutschen Krankenkasse. Mehr Ankommen im Mainstream geht kaum.
3. Ungewollte Berühmtheit
Das Internet ist eine Aufmerksamkeitsmaschine. Es verschafft heute Botschaften ein Millionenpublikum, die gestern noch keinen interessiert haben. Es treibt heute Ideen um die Welt, die gestern erst in einer Garage entstanden sind. Es macht heute Menschen weltberühmt, die ihren Bekanntenkreis gestern noch an zwei Händen abzählen konnten.
Dieses Jahr hat gezeigt, dass das auch funktioniert, wenn diese Menschen es selbst nie auf Berühmtheit angelegt hatten.
Breanna Mitchell aus Alabama fand sich im Sommer in einem Shitstorm wieder. Sie hatte ein Selfie getwittert, das sie lächelnd auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zeigt.
Im August hielt der fünfjährige Noah Ritter einen Monolog in einem US-Lokalsender, der früher wohl dort untergegangen wäre. Das Video ging viral (mittlerweile wurde es 18 Millionen mal angesehen), und Noah bekam wenig später einen Werbevertrag.
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Und dann war da Alex from Target. Ein Junge mit schönen Haaren und Klimperwimpern, der nichts tat, mit dem er berühmt hätte werden wollen. Er sang nicht, tanzte nicht, bloggte nicht. Er arbeitete nur im Supermarkt Target. Aber ein paar tausend Mädchen fanden ihn hübsch und erzählten das mittels Foto-Weiterleiten und –Posten ihren Freundinnen. Stunden später war Alex weltberühmt und der Hashtag #AlexfromTarget ganz oben in den Twitter-Ranglisten. Alex ist jetzt berühmt, ohne dass er auch nur einmal dafür einen Finger gekrümmt hat. Sein Beispiel zeigt auch: Teenager-Mädchen mit Internetzugang sind eine weit unterschätzte Macht.
4. Die Fake-Spontanaktion
Spätestens seit dem Jahr 2014 sollte man sich als Internetnutzer einen Reflex angewöhnen: Wenn irgendwas überall zu sehen ist und alle Viralitätsrekorde knackt, muss man misstrauisch werden und sich fragen, was dahinter steckt.
Im Februar wurde ein Foto geteilt wie nie: ein Selfie von der Oscar-Verleihung, live geschossen und getwittert von Moderatorin Ellen DeGeneres. Was spontan aussah, war aber geplantes Product Placement: Samsung, Sponsor der Preisverleihung, wollte sein Smartphone möglichst publikumswirksam inszenieren.
Nur wenige Tage begeisterte das Video First Kiss weltweit die Menschen mit herzergreifenden, in romantischen Schwarz-Weiß-Bildern gefilmten Sequenzen von fremden Menschen, die sich das erste Mal küssen. Nur: Der Clip war von einer Modemarke beauftragt, und die vermeintlich fremden Zufallsküsser zum Teil Schauspieler und Models.
https://www.youtube.com/watch?v=IpbDHxCV29A
5. Das Happy-Video und seine neuen Versionen.
Pharrell Williams Song Happy ist zwar 2013 erschienen. Aber 2014 geschah damit noch eine ganze Menge. 2013 hatte Willliams kein normales Video veröffentlicht, sondern die Webseite 24hoursofhappy.com, auf der man ein 24-stündiges Musikvideo zu „Happy“ voller fröhlicher Tanz- und Clap-along-Menschen aus Los Angeles sehen kann. Dieses Video wurde 2014 wahrscheinlich in jeder Stadt dieser Welt einmal kopiert. Interessant war daran vor allem, dass dies auch vermehrt in Krisenregionen geschah: Happy aus Kiew, Happy von den Taifun-geplagten Philippinen. Dadurch bekam der eigentlich auf nichts als gute Laune ausgelegte Pharrell-Song plötzlich Bedeutungen, die der Künstler beim Schreiben wohl nie im Sinn hatte. Das zeigt: Was aus einem Song wird, liegt nicht mehr unbedingt in der Hand seines Schöpfers. Pharrell selbst sagte im April in einem Interview mit Operah Winfrey zu dem (in dem er auch vor Rührung zu weinen beginnt): „And it was no longer my song.“