Quantcast
Channel: Alle Meldungen - jetzt.de
Viewing all articles
Browse latest Browse all 6207

Alles auf Anfang

$
0
0

Michel Cousins hat das Handy am Ohr, als er ein Café am Nilufer im Kairoer Stadtteil Zamalek betritt. „Schwere Kämpfe? Wo genau?“, fragt der Chefredakteur des Libya Herald einen Mitarbeiter in Tripolis am anderen Ende der Leitung. „Welcher Tag ist heute?“ – Die Zeiten sind stressig, wenn man sich auf Libyen als Berichterstattungsgebiet fokussiert hat. „Ah ja, dann sehe ich morgen den Botschafter hier in Kairo“, fügt der 63-Jährige hinzu. Fester Händedruck, die Ärmel des blauen Hemdes hochgekrempelt, lässt Michael Cousins sich in den Stuhl fallen und drückt den nächsten Anruf auf seinem zweiten Handy weg.



Blick über Libyens Hauptstadt Tripolis nach einem Raketenangriff durch die Milizen im August 2014.

Seit Anfang Juli zieht er das Exil seiner Wahlheimat Tripolis vor. Damals war er für ein Wochenende nach Istanbul geflogen. Und als er zurück wollte, war der wichtigste Flughafen Libyens dicht, weil dort schwere Gefechte ausgebrochen waren. Vielleicht könnte er zurück. „Nichts und niemand hindert mich“, sagt er. Doch es gab Drohungen, und es ist schwer einzuschätzen, wie ernst die zu nehmen sind. So pendelt er seither zwischen Tunis, seinem Wohnsitz in Frankreich und jetzt eben Kairo, wo er eigentlich Freunde besucht, aber natürlich auch von der Arbeit nicht lassen kann. Per Handy und E-Mail hält er Kontakt zu seinen Leuten. Zehn bis zwölf Artikel stellt die Redaktion pro Tag auf die Internetseite Libyaherald.com, fünf bis sechs Vollzeitmitarbeiter beschäftigt Cousins noch, die in Libyen recherchieren. Dazu kommen er, der die meisten Texte redigiert und auf die Internetseite stellt, und sein libyscher Partner. Auch ein paar freie Journalisten aus der Region liefern gelegentlich Artikel – über die Emirate, Ägypten oder Katar, eine Reihe regionaler Akteure mischen mit in dem vielschichtigen Konflikt.

Aber wie kommt man auf die Idee, ausgerechnet in Libyen – und ausgerechnet in dieser Situation – eine neue Tageszeitung zu gründen, eine englischsprachige noch dazu? „Ich muss verrückt gewesen sein“, ruft Cousins und streicht sich mit der Hand über die Glatze. Von heute aus betrachtet mag das so erscheinen, doch ist die Geschichte des Libya Herald nur eine von vielen enttäuschten Hoffnungen nach dem Sturz des Langzeitdiktators Muammar al-Gaddafi. Cousins fühlt sich dem Land verbunden, um das Mindeste zu sagen. Als Kind hat er in Tripolis gelebt, als Jugendlicher all seine Ferien dort verbracht, nachdem seine Eltern ihn mit zehn Jahren auf ein britisches Internat geschickt hatten. Seine Familie hat 30 Jahre in der Stadt gelebt, bevor sie 1982 das Land verlassen musste, der Vater hatte dort für eine Ölfirma gearbeitet.

Cousins behielt Libyen als kosmopolitisches Winterdomizil reicher Europäer in Erinnerung, die das angenehme Klima bei Drinks in den eleganten Cafés von Tripolis genossen, der „Perle am Mittelmeer“, wie er die Stadt nennt. Seine Augen funkeln, seine Hände rudern, wenn er von damals erzählt, von einem Land, in dem Ruinen aus griechischer und römischer Zeit von einer großen, jahrtausendealten Kulturgeschichte zeugen. „Wir redeten über Libyen wie über einen lieben Verstorbenen“, sagt er – respektvoll, aber vielleicht manchmal auch ein wenig verklärend.

Die Erinnerung an diese fernen Jahre war schon verblichen, als Cousins im Februar 2011 im saudischen Dschidda im Newsroom von Arab News saß, einer englischsprachigen Zeitung mit panarabischem Anspruch, und am Fernseher verfolgte, wie sich der Aufstand in Libyen entfaltete. Die Kameras filmten einen Balkon in Bengasi, den vermummte Rebellen gerade erklettert hatten. „Das ist die Flagge“, rief Cousins elektrisiert. Seine Kollegen starrten ihn verständnislos an, aber „in diesem Moment wusste ich, das ist eine komplette Revolution“. Es war das Banner des Königreichs, rot-schwarz-grün mit dem weißen Halbmond und Stern. Die gleiche Flagge hatte Cousins Vater trotzig über dem Familiensitz in Schottland aufgezogen, nachdem Gaddafi ihn hinausgeworfen hatte.

Ende April stieg Cousins in Bengasi aus dem Flieger, er hatte sich an Bord einer UN-Maschine aus Kairo gemogelt, wie er schmunzelnd erzählt. Er folgte der Revolution nach Tripolis, wo er manche Leute traf, mit denen er einst in die Schule gegangen war. Er traf aber auch Samy Zaptia, der einmal für die Tripoli Post gearbeitet hat. Wenn Libyen daran anknüpfen sollte, was es vor Gaddafis Machtergreifung 1969 einmal war, dann würde es wieder eine solide, englischsprachige Zeitung brauchen. Darin waren sich die beiden Männer einig. Und so ging am 17.Februar 2012, dem ersten Jahrestag der Revolution, die Internetseite ihres neuen Projekts online – der Libya Herald war geboren.

Der Plan war, bald eine gedruckte Zeitung herauszubringen, doch wie viele hochfliegende Ideen in der Phase der Euphorie nach der Revolution, scheiterte er bald an den Gegebenheiten vor Ort. „Neben der Website haben wir erst mal mit einem Wirtschaftsmagazin begonnen, das alle zwei Monate erscheint“, erinnert sich der Chefredakteur, der auch Geschäftsführer ist. Doch selbst bei diesem langen Vorlauf war längst nicht jedes Mal sicher, dass am Erscheinungstag die Stapel mit den frischen Zeitschriften bereitstanden. „Mal gab es kein Papier, mal streikte die Druckerei“, erzählt Cousins – schon seit Mai ist keine Ausgabe des Magazins mehr erschienen. Und statt einer lang anhaltenden Aufbau-Bonanza griff in dem ölreichen Land bald neue politische Instabilität um sich – nicht gerade förderlich für das Anzeigengeschäft, das zumindest anfangs hoffen ließ, dass sich der Libya Herald und seine Ableger wenigstens selber tragen würden.

Journalistisch konnte sich die Publikation dagegen schnell einen Namen erarbeiten. Cousins wurde von CNN und anderen großen TV-Stationen als Experte für die Region interviewt; sein Wissen über alte Loyalitäten und Rivalitäten war plötzlich sehr gefragt. „Es hilft, das Land zu verstehen. Man kann es besser analysieren, wenn man die tiefer liegenden Strömungen der Gesellschaft kennt“, sagt Cousins. Aber in erster Linie kommt es ihm auf die guten alten journalistischen Tugenden an, die er Mitte der Siebzigerjahre selbst beim Middle East Economic Digest in der Londoner Chancery Lane gelernt hat. „Überprüfe jede Information und überprüfe sie noch einmal“, betet er sein Mantra vor. „Und in Libyen: Überprüfe sie fünfmal!“ Die Gerüchteküche brodelt in diesen unsicheren Zeiten, und sie wird gezielt befeuert, um noch mehr Unsicherheit im Land zu verbreiten.

Doch von Wertschätzung alleine kann auch Cousins nicht leben. Eine Viertelmillion Euro aus eigener Tasche hat er bislang in sein Projekt gesteckt, gerade hat er ein Haus verkauft, um den Laden am Laufen zu halten. Die Bezahlschranke der Internetseite wirft nicht viel ab, Zusagen für finanzielle Unterstützung aus Europa haben sich nicht materialisiert, und die 20000 Dollar, die er anfangs von den Briten und Amerikanern bekommen hatte, um libysche Journalisten auszubilden und zu trainieren, sind lange verbraucht. „Ich habe in meinem Leben nie härter gearbeitet als jetzt“, sagt Cousins. „Alles vorher war ein Übungslauf.“ Noch hat er die Hoffnung nicht aufgegeben. „Wir versuchen weiterzumachen“, seufzt der Journalist und lehnt sich zurück. „Aber es sieht zunehmend unkomfortabel aus.“ Britisches Understatement, das für den Libya Herald ebenso zutrifft wie für das Land, das Michel Cousins nicht wieder losgelassen hat.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 6207