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Ein Schock nach 30 Jahren

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Waterboarding ist nicht neu. Die Foltermethode, bei der die Atemwege eines Gefangenen unter Wasser gesetzt werden, wurde nicht erst im „Krieg gegen den Terror“ entwickelt. Sie war auch gängiges Mittel der Repression in lateinamerikanischen Militärdiktaturen, vor allem in Brasilien. Das Land setzt sich derzeit, ähnlich wie die USA, so intensiv wie nie zuvor mit kriminellen Methoden seiner eigenen Sicherheitskräfte auseinander. Präsidentin Dilma Rousseff hatte eine Wahrheitskommission zu den während der Diktatur von 1964 bis 1985 verübten Verbrechen eingesetzt. Was die berichtet, rüttelt die Nation auf. Bislang hinkte Brasilien bei der Vergangenheitsbewältigung Nachbarländern wie Argentinien oder Chile hinterher.



Dilma Rousseff bei der Vorstellung des Berichts der Wahrheitskommission zu den während der Diktatur verübten Verbrechen.

Ein „Dokument des Grauens“ hat der Kommissionsvorsitzende, der Anwalt Pedro Dallari, seinen Bericht genannt. Demnach sind während der brasilianischen Militärdiktatur 434 Menschen getötet worden oder verschwunden. Das sind viel weniger als in Argentinien, wo Menschenrechtsgruppen von 30000 Opfern ausgehen. Dennoch waren Verfolgung und Folter auch in Brasilien durchorganisiert und vom Staat gewollt, sagte Dallari, und „nicht das Werk einzelner Psychopathen“, wie das Militär glauben machen will. Eines der Opfer war die Staatspräsidentin selbst, die als junge Aktivistin in den 1970er-Jahren im Kerker landete. „Die Spuren der Folter sind ein Teil von mir“, sagte Rousseff unlängst in einer ihrer wenigen persönlichen Äußerungen zu dem Thema. Bei der Vorstellung des Berichts kamen der 66-Jährigen die Tränen, minutenlang konnte sie nicht sprechen. Es ist Rousseffs Initiative zu verdanken, dass die Kommission 2012 überhaupt eingesetzt wurde. Unter ihren Vorgängern hatte es nur zaghafte Versuche gegeben und das Militär hintertrieb sie durch Obstruktion und Aktenvernichtung. Auch jetzt hatte die Kommission keinen Zugriff auf viele Dokumente, die in Kasernen lagern. Ihr Aufruf, das Militär müsse Verantwortung für seine Taten übernehmen, verhallte ungehört.

Dass Brasilien sich so zögerlich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt, hat damit zu tun, dass große Teile der Ober- und Mittelschicht sich mit den Generälen arrangiert hatten. Die Ärmeren fütterte man ab mit Fußball und einer Art Samba- Nationalismus. Die Demokratisierung ging in den 1980er-Jahren behutsam vonstatten, man war um Konsens bemüht, um ja den fragilen Übergang nicht zu gefährden. Ähnlich wie in Spanien wurde deshalb auf die Verurteilung von Folterern verzichtet. Stattdessen wurde ein „Pakt des Schweigens“ etabliert. 1979 gab es eine Amnestie für die Generäle, sie gilt bis heute, und auch Rousseff will sie im Sinne der „nationalen Einheit“ nicht infrage stellen. Ihr gehe es um „Versöhnung“, sagte sie. Doch für exzessive Gewalt dürfe die Amnestie nicht gelten, befindet nun das Kommissionsmitglied José Carlos Dias, einst Justizminister unter dem konservativen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso. Viele Taten seien einfach zu brutal gewesen.

Wie brutal, darüber gibt der Bericht Auskunft. Die Kommission sprach mit Folteropfern im ganzen Land, mit früheren Aktivisten, Studenten, Gewerkschaftern. Sie brachten auch Opfer und Täter zusammen, es kam dabei zu heftigen Szenen. Etwa als Carlos Ustra, Ex-Chef der Geheimpolizei, sich lauthals brüstete, Brasilien vor Terroristen geschützt zu haben. In der Tat ähnelt die Rechtfertigungslinie stark jener der Folter-Apologeten in den USA. Von dem verstorbenen Junta-Führer Ernesto Geisel ist die Aussage überliefert: „Ich rechtfertige Folter nicht, aber ich erkenne an, dass es Umstände gibt, unter denen der Einzelne gezwungen ist, Folter anzuwenden, um bestimmte Geständnisse zu erhalten und auf diese Weise größeres Übel zu verhindern.“ Der 84-jährige General Nilton Cerqueira, der in dem Bericht neben 376 anderen Offizieren und Politikern namentlich als Täter erwähnt ist, sagte dazu der Zeitung Folha de São Paulo: „Bin nur ich es, der Menschenrechte missachtet hat? Was ist mit den Terroristen, inklusive der Terroristin, die heute Präsidentin ist?“

Doch es gab auch Offiziere, die auspackten. Coronel Paulo Malhaes gab zu, dass er systematisch gefoltert hat. Im April dieses Jahres wurde er ermordet – vermutlich, um weitere Geständnisse zu verhindern. Malhaes hatte auch berichtet, einen Teil des Handwerks in Großbritannien gelernt zu haben, wo der Geheimdienst subtilere, im Nordirlandkonflikt erprobte Methoden anwendete als die brasilianische „Papageienschaukel“. Andere Folterer wurden an der School of the Americas in Panamas Kanalzone von US-Amerikanern ausgebildet.

Die Kommission warnte nun, wenn ihre Ergebnisse juristisch folgenlos bleiben sollten, schade dies der Demokratie. Werde Folter nicht geahndet, könne sie leicht als legitimes Mittel der Verbrechensverhinderung missdeutet werden. Das scheint in Brasilien ohnehin zu geschehen, wie die vielen Berichte über Polizei-Misshandlungen in den Armenvierteln, den Favelas, nahelegen.

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