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Pola Negri auf Speed

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Ein monströser Klotz, dieses Moskauer „Theater der Russischen Armee“. Hohe Treppen, gigantische Türen. Unheimliche Säulen, die die vorbeimarschierenden Massen teilen wie Baumstämme eine Ameisenarmee. Man könnte auch sagen: Diese Szenerie vor stalinesker Kulisse wirkt wie ein gewaltiger dreidimensionaler Spezialeffekt.



In Polita erlebt der Zuschauer tatsächlich, wie sich traditionelle Theaterkunst klug mit stereoskopischer 3-D-Technik vermischt.

Dreidimensional? Ist das Leben nicht generell dreidimensional? Sogar Filmvorstellungen sind heute ja dreidimensional. Zumindest die, für die an der Kinokasse Brillen ausgehändigt werden. Man kann das mögen oder auch nicht. Manche Menschen, das ist sicher, kriegen beim Tragen von 3-D-Brillen Kopfschmerzen. Die gehen dann lieber ins Theater.

An den Saaleingängen, gleich hinter dem Barmann, der Pistazien und Snickers im Angebot hat, verteilen Ticketkontrolleure Brillen plus Putztücher. Der Zuschauer braucht sie für den Genuss des angeblich „ersten 3-D-Musicals der Welt“. Es erzählt die Geschichte des Stummfilmstars Pola Negri (1897–1987). Mit polnischen Darstellern. Auf Russisch. Ohne Untertitel. Schon bei dem Gedanken daran sind die Kopfschmerzen quasi programmiert.

Aber dann geht der Vorhang auf, und es passiert etwas Unglaubliches: Der Zuschauer erlebt tatsächlich, wie sich traditionelle Theaterkunst klug mit stereoskopischer 3-D-Technik vermischt. Was ist noch Realität? Was Projektion? Was Requisite? Was Illusion? Was ist vorne? Was ist hinten? Das Stück läuft in Polen und Russland schon seit zwei Jahren. Von deutsch- und englischsprachigen Medien wurde es bisher jedoch ignoriert. Ende Januar nun ist „Polita“ erstmals westlich der polnischen Grenze zu sehen. Für drei Abende kommt die Aufführung nach Stuttgart, Mannheim und München.

Zum Inhalt: Pola Negri war der erste weibliche Superstar der Filmgeschichte. Unter Regisseur Ernst Lubitsch stieg die Polin in den Zwanzigerjahren zur bestbezahlten Schauspielerin in Hollywood auf. Ihre Affären mit Charlie Chaplin und Rudolph Valentino produzierten viele Schlagzeilen. Mit Aufkommen des Tonfilms allerdings wurde Negri ihr Akzent zum Verhängnis. Nachdem sie auch noch infolge des Börsencrashs in finanzielle Turbulenzen geraten war, wechselte sie zur Ufa nach Berlin. Wegen ihrer Herkunft belegte Goebbels sie mit einem Drehverbot, Hitler aber – offenbar Negri-Fan – intervenierte. 1941 kehrte sie wieder in die USA zurück und galt dort als „Führers Geliebte“. Von Depressionen geplagt, schlug Negri sogar ein Angebot von Billy Wilder aus. Sie wurde Grundstücksmaklerin in Texas und starb 1987.

Eine Biografie, die für Regisseur Janusz Józefowicz Vehikel für unzählige visuelle Spielereien ist. Der bebrillte Zuschauer weiß irgendwann nicht mehr, ob die Tauben real und die Pferde falsch sind – oder vielleicht umgekehrt. Was ist mit dem Flugzeug, dem Schiff, den Oldtimern? Bewegen sich gerade die etwa 100 Darsteller oder der Hintergrund? Riecht es nicht nach Feuer? Und wie kommt es, dass das zunächst nur als 3-D-Effekt wahrgenommene Wasser einem plötzlich ganz real ins Gesicht spritzt? Die verrückte Mischung von echt und falsch – für Józefowicz ist das ein Riesenspaß.

Nach dem letzten Vorhang, als 2000 begeisterte Zuschauer das „Theater der Russischen Armee“ wieder verlassen haben, tritt Józefowicz, ein 55 Jahre alter, lachender Charismatiker mit zerzauster Frisur und brauner Cordhose, vor die Bühne. In Reihe 6 beantwortet er jetzt Fragen von interessierten Journalisten. Ja, er sei zufällig durch eine Ausstellung auf Negri aufmerksam geworden, sagt er. Später habe er dann versucht, mögliche Geldgeber von seiner Idee seines 3-D-Musicals zu begeistern. „Doch niemand verstand, was ich damit meinte. Also plünderte ich mein Konto, gab alles einer Warschauer Firma für Computereffekte und entschied: Ich mache das selbst.“ Die 3-D-Spezialisten, die Józefowicz beauftragte, hatten sich bereits mit Kurzfilmen und der Zusammenarbeit mit Regisseuren wie Lars von Trier einen Namen gemacht. Theaterkomponist Janusz Stokłosa komponierte die Musik, die deutlich von östlicher Folklore und dem Charleston-Sound der Zwischenkriegsjahre inspiriert ist.

Nach ersten 3-D-Versuchen mietete Józefowicz ein Warschauer Kino an, lud Freunde und Kollegen zur Preview ein – auch einen wichtigen New Yorker Produzenten. „Ein totaler Flop“, erinnert er sich. „Der letzte Scheiß.“ Später stellte sich der Grund heraus: „Der Idiot von Filmvorführer hatte seine Projektorleuchte um 50Prozent gedimmt, um die Lebensdauer seiner teuren Lampe zu verlängern. Und schon war der ganze Effekt kaputt. Solche Kino-Idioten haben schon damals fast die Einführung des Tonfilms vermasselt.“ Józefowicz kaufte eigene, leistungsstarke Projektoren. Mit ihnen gelang das 3-D-Live-Spektakel erstmals.

Janusz Józefowicz ist ein in Polen bekannter Schauspieler, Regisseur und Choreograf. Schon seit 23 Jahren wird sein Musical „Metro“ weltweit aufgeführt. Für Roger Waters (Pink Floyd) inszenierte Józefowicz einst die Rock-Oper „Ca Ira“. Seine Ehe mit der Tänzerin und Schauspielerin Natasza Urbańska, 37, beschäftigt viele osteuropäische Gazetten: Ist sie auf ihn vielleicht eifersüchtig? Ist er ein Despot? Geht ihre Modefirma bald den Bach runter? Spekuliert wird viel. Fest steht: Józefowicz und Urbańska sind seit sechs Jahren verheiratet und haben eine gemeinsame Tochter. Er ist der Macher, sie der Star. Er ist der Kopf hinter „Polita“, sie ist die Hauptdarstellerin. Während er im „Theater der Russischen Armee“ auch kurz vor Mitternacht noch begeistert erzählt und dabei wüst mit seinen Armen fuchtelt, sitzt sie, ein bisschen unscheinbar und mit einem Blumenstrauß in der Hand, am Bühnenrand. Wie ist es für sie als Schauspielerin, in einem 3-D-Stück zu agieren? „Der totale Stress“, sagt Urbańska. „Erstens siehst du nicht, was gerade hinter dir projiziert wird, und zweitens reflektieren Tausende 3-D-Brillen dir ständig Licht ins Gesicht.“ Klingt nach Kopfschmerzen.

Natürlich: Auch „Polita“ ist Kitsch. Die tanzende Negri, ihr zigarrenrauchender Ersatzvater Lubitsch, ihre schwebende Vereinigung mit Rudolph Valentino im siebten Sternenhimmel. Nun ja. Doch die Effekte sind verblüffend: Mal landen die Schauspieler mit einem Doppeldecker auf einem fahrenden Zug, dann tanzen sie mit riesigen Schlangen, oder schwimmen in einem gewaltigen Pool davon. „Ich habe „Spiderman“ am Broadway gesehen“, prahlt Józefowicz, „eine der teuersten Produktionen überhaupt. Für mich ist das: altes Theater. Langweilig.“ Und jetzt interessieren sich Amerikaner und Chinesen für seine Idee.

Gerne hätte er in seine Pola-Negri-Hommage noch viel mehr historisches Filmmaterial eingebaut. So wie es Martin Scorsese in „Hugo Cabret“ mit Szenen aus dem Archiv des Filmpioniers Georges Méliès tat. Doch allein die Rechte an einer kurzen Harold-Lloyd-Szene hätten ihn Tausende Euro gekostet, klagt Józefowicz. „Erben und Firmen sitzen mittlerweile auf allem drauf. Das ist schade. Schließlich geht es uns ja darum, die Kunst alter Tage mit modernen Mitteln wiederauferstehen zu lassen.“

Ob „Polita“ in deutschen Mehrzweckhallen auch funktioniert? Das wird sich zeigen. Den Schauspielern aber bleibt nur wenig Zeit, ihre Texte auf Deutsch zu lernen. Untertitel scheiden aus. Sie würden den malerisch gestalteten Szenen zu viel von ihrem Zauber rauben. Sprechen Lubitsch und Goebbels also womöglich Deutsch mit polnischem Akzent? Das möchte man sich lieber nicht vorstellen – bei Eintrittskarten um die 70, 80 Euro.

Doch Janusz Józefowicz glaubt an den großen Erfolg. „Meine Idee wird sich durchsetzen“, sagt der Theaterrevolutionär. Auch, weil’s einfach praktisch sei. Keine tonnenschweren Kulissen mehr! Die hätten in einer anderen Produktion ja fast mal einen Schauspieler erschlagen. In wenigen Tagen feiert Józefowiczs nächstes 3-D-Projekt Premiere. „Romeo und Julia“ in St. Petersburg – mit fliegenden Autos und anderen verrückten Dingen. Danach soll Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“ folgen, die kluge Satire über Bürokratismus in der Sowjetzeit. „Alles geht in 3D“, sagt Józefowicz. „Hoffentlich macht uns die russische Politik nur keinen Strich durch die Rechnung.“

Als zwei stämmige Russen vom Sicherheitsdienst dem Besucher am Ende des Abends seine an der Garderobe immer noch nicht abgeholte Jacke vorwurfsvoll in die Hand quetschen, erzählt der Pole Józefowicz noch schnell, dass er noch nicht mal ein Copyright auf seine Idee habe. „Leider. Und nun ist es zu spät.“ Er lacht. „Ist mir doch egal! Geschichte schreiben kann ich auch so.“ Dann holt er seine Frau, die schöne Hauptdarstellerin, am Bühnenrand ab und steigt mit ihr ins Taxi.

Von den beiden wird man noch hören.

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