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Krieg statt Kinderstube

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Die Sprachlosigkeit deutscher Väter der Kriegs- und vor allem der Nachkriegsgeneration ist mehr als ein literarischer Topos: Sie ist eine reale Erfahrung, mit der viele Familien bis heute umzugehen haben. Aber es gab auch die anderen Väter. Diejenigen, die mit dem Sprechen nicht mehr aufhören konnten. Der Journalist Thomas Gnielka, Jahrgang 1928, muss so einer gewesen sein. 1965 starb er mit nur 36 Jahren an Hautkrebs. Oder: An seinen Erlebnissen, so sah es seine Frau, die mit fünf Kindern zurückblieb.



Junge deutsche Soldaten werden im Zweiten Weltkrieg nach ihrer Gefangennahme von einem US-amerikanischen Soldaten bewacht.

Thomas Gnielkas Recherchen zu zwielichtigen Vorgängen in der Wiesbadener Wiedergutmachungsbehörde trugen maßgeblich dazu bei, dass 1963 der sogenannte Frankfurter Auschwitz-Prozess eröffnet werden konnte. Gnielka führte nicht nur Gespräche mit KZ-Überlebenden, unterstützte ihre Forderungen nach Entschädigung und spürte Leuten wie Richard Baer nach, dem untergetauchten letzten Lagerkommandanten von Auschwitz. Er übergab dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer 1959 auch eine Erschießungsliste, die die Namen der ausführenden SS-Leute verzeichnete und damit zur Grundlegung der Anklage beitrug.

Giulio Ricciarelli erzählt diese Geschichte in seinem Film „Im Labyrinth des Schweigens“, der derzeit in den deutschen Kinos läuft, mit Gert Voss in seiner letzten großen Rolle als Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Hinter dieser Helden-Geschichte vom ruhelosen Journalisten, der noch unter Morddrohungen nicht zulassen will, dass die deutsche Gesellschaft ihre Taten verdrängt, steht eine andere.

Thomas Gnielka war selbst in Auschwitz. Er war 1944 15 Jahre alt und sollte mit seinen Klassenkameraden als Flakhelfer die IG-Farben-Werke verteidigen. Das hieß manchmal auch: KZ-Insassen bei ihren Arbeiten beaufsichtigen. Thomas Gnielka erzählt davon in einem Roman-Fragment mit einer Offenheit, die heute vermutlich nicht mehr möglich wäre. Lager-Literatur kennt man aus Sicht der überlebenden Opfer; die zwar fiktionalisierte, aber eigentlich nicht fiktive Perspektive eines 15-jährigen Flakhelfers hingegen ist nach wie vor ziemlich einzigartig.

Gnielka war Volontär beim Spandauer Volksblatt, als ihm kein anderer als Hans Werner Richter, der gerade die Gruppe 47 gegründet hatte, riet: „Schreib dir alles von der Seele.“ Und Gnielka schrieb. Er schrieb die Geschichte seiner Klasse, der Obertertia des Kant-Gymnasiums in Berlin-Spandau, das für seine humanistische Erziehung bekannt war. Er schrieb vom letzten Tag in der Schule und wie peinlich berührt sein Alter Ego davon ist, dass der Lehrer Tucholskys Gedicht „Nie wieder Krieg!“ rezitiert oder wie unanständig ihm die weinende Mutter seines Freundes erscheint. Er schrieb davon, wie der „kleine Mählis“ vor Angst zittert, davon, wie seine Hauptfigur bei einem Angriff absichtlich danebenschießt und dann doch draufhält, als „diese Schweine“ sie ohne Pardon „bepflastern“. Gnielka erzählte, wie die Jungen den Gefangenen in Auschwitz Zigaretten liegen lassen, wie die sich um sie prügeln und ein Kamerad voll Abscheu sagt: „Das sind doch keine Menschen mehr.“

Die Roman-Fragmente kann man wie einzelne Bilder lesen, die nicht alle beschriftet wurden. Auch aus den Bruchstücken lässt sich aber leicht das Porträt einer außergewöhnlichen Persönlichkeit und der Zeit, die sie hervorbrachte, zusammenfügen. Die Herausgeber, Kerstin Gnielka und Werner Renz vom Fritz-Bauer-Institut, haben dem Roman Thomas Gnielkas ein erhellendes Exposé beigegeben sowie seine wichtigsten Artikel und zwei Essays der FR-Journalistin Claudia Michels und des Historikers Norbert Frei. Materialien, die Zusammenhänge aus den letzten Kriegsmonaten erklären und die Geschehnisse um den Frankfurter Auschwitz-Prozess beschreiben und einordnen.

Im Exposé zu seinem Roman erklärt Gnielka: „Es ist meine Absicht, in dieser Arbeit etwas über das Schicksal all derer zu sagen, die in den letzten Kriegsjahren im Kindesalter eingezogen und an die Front geworfen wurden. Ich glaube, dass dies notwendig ist, da sich bis heute noch niemand mit diesem Thema beschäftigt hat.“

1952 las Gnielka aus dem Manuskript bei der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf vor. Ein Rezensent bescheinigte ihm „erzählerisches Talent“ und dass sich bei ihm „sprachliche Ausdruckskraft mit sympathischer menschlicher Aussage“ verbinde. Ein anderer hob die „überraschende Lebensfülle“ seiner Erzählungen hervor. Heute kann man die Fragmente sofort der Nachkriegsliteratur zuordnen: Der sachliche Ton erinnert an Günter Eich und Heinrich Böll, das Gewicht, das Gnielka auf die Authentizität der Figurenrede legt, an Romane wie Hermann Kants „Die Aula“ oder an die Erzählweise politischer Autoren wie Christian Geissler: „,Du‘, sagt der lange Spengler zu mir, ‚heute kriegen wir ’nen Transport aus dem Lager. Stellungsbau, weißte?‘ ‚Die fallen ja um, wenn sie ’ne Schippe anfassen sollen‘, sage ich, ‚warum lässt der Alte das nicht von den Iwans machen, die fressen doch genug in der Küche?‘“

Im Exposé schreibt Gnielka über seinen fiktionalisierten Erlebnisbericht: „Eins haben alle im Buch gezeigten Jungen gemeinsam: Sie entwickeln sich durch die Beschäftigung, zu der sie gezwungen wurden, ganz stark einseitig.“ Was das heißt, auch für die Zukunft der deutschen Gesellschaft bis in die Kapillaren ihres Innenlebens hinein, drückt vielleicht ein Satz wie dieser aus: „Jedes Mal, wenn ich die aufgeweichten Grasbüschel unter meinen Füßen spüre, bekomme ich ein unangenehmes Gefühl im Magen. Ich muss dann ein paar Worte laut reden, davon geht es weg.“

Die subtile Psychologisierung, die Andeutung des Traumas zwischen den Zeilen zeigen die literarischen Möglichkeiten, die Thomas Gnielka als literarischer Autor hätte entfalten können. Er beendete den Roman aber nicht, sondern verschrieb sich der journalistischen Aufklärungsarbeit im Zusammenhang mit den Auschwitz-Prozessen, vor deren Abschluss er so jung verstarb.

Über seine Generation schrieb Gnielka in einem Hörfunk-Vortrag über „Literatur der Gegenwart“, sie sei nicht verzweifelt, „sondern nur ein bisschen verwildert. Sie hat statt Kinderstube ein wenig Krieg genossen und statt einer soliden Erziehung eine Zeit lang Mord und Brand. Sonst aber ist sie ziemlich in Ordnung. Es gibt keine verlorenen Generationen, ein für alle mal nicht. Sie sind eine literarische Erfindung. Verloren ist nur, wer sich verloren gibt – und wer tut das schon?“


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