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Ein Traum von einer Stadt

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Es ist höchste Zeit, dass du in die Stadt kommst, sagt der Freund zum Schriftsteller Ödön von Horváth, der noch immer im beschaulichen Murnau wohnt. „Du lebst hier am Rande der Welt.“ Nach Berlin muss er, denn in Murnau „fehlt dir die Atmosphäre der neuen Menschen“. Die konzentrierten sich in den manchmal Goldenen Zwanzigern in Berlin, lasen Zeitung im Romanischen Café und wollten Pointen sprühen wie Tucholsky, schnarrten aber dann Freikorpsenes mit Ernst Jünger, himmelten mit Brecht irgendwelche Boxer an und erreichten doch nie die Höhe und die Tiefe des grausamsten aller Großstadtromane, Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz.



In Berlin schrieb der zugereiste Horváth seine besten Stücke, auch davon erzählt der Film.

Ein Reklamerummel, ein Sprachgewitter, eine Schicksalsmaschinerie brüllt da auf den Leser ein, ein literarischer Lärm, von dem das inzwischen wiederhergestellte und erfolgreich überkronte MillionenBerlin so gern albträumen würde, wenn die vielfältigen Subventionen es nur zuließen. Schon der junge Horváth wusste, dass „das Materielle unentbehrlich ist. Und das bietet dem jungen Schriftsteller nur Berlin, von allen deutschen Städten.“ Der Viermächtestatus nach dem Krieg, die Teilung durch die Mauer ab 1961 nährte den Mythos einer kulturellen Sonderwirtschaftszone, in der es sich nicht nur prächtig leben, sondern auf mindestens weltliterarischem Niveau schreiben ließe.

Davon, von der Berliner Weltliteratur, handeln die Berlin Stories. Nach der Wende ist alles, was einen Namen hatte oder gern einen hätte, nach Berlin gezogen, wo, wie der Film mit Expertennachhilfe und ständig wechselnder Kameraperspektive blitzschnell herauspräpariert, eine „Mischung aus Anarchie und Ordnung“ herrscht. Berlin redet vielstimmig und ist bei seinem Lieblingsthema, bei Berlin. Dieses fabelhafte Berlin, von dem eben wieder der Musikkritiker der New York Times den Lieben daheim so verzückt berichten konnte, unterscheidet sich von anderen Großstädten wie Paris, London der New York. Ein französischer Autor kann sogar beitragen, dass es im langweiligen Paris keine Partyszene gebe, jedenfalls nichts mit Berlin Vergleichbares.

Dazwischen, mehr schlaf- als tatsächlich wandelnd: Touristen aus aller Welt, dieses unvergleichliche Berlin erforschend – die Handykamera auf plastinierte Ruinen gerichtet, die Handvoll vom Senat bezahlten Punks, die Weltzeituhr am Alex, wo sich einst die Schubiaks und Biberkopfs mit ihren Miezes herumtrieben. Wie Wundergläubige wollen sie den Mythos berühren, der aus den Zwanzigern überliefert wird, und der sich bereits überlebt hatte, als 1933 die Nazis an die Macht kamen und anfingen, die Juden zu vertreiben und zu verfolgen. Das alte Berlin, das viel zu rasch in der Industrialisierung zusammenglomerierte brutale Berlin Döblins, auch das heimliche Berlin Franz Hessels, ach, es ist durch solch raunende Beschwörungen dieser Vergangenheit doch nicht wieder zu erwecken. Die Wahrheit sagt der französische Autor: „Ich glaube, es ist weniger Döblin, was die Leute nach Berlin bringt, sondern Easyjet.“

So sind diese Berlin Stories unvermeidlich ein Klaglibell auf einen Stadtmythos, in dem „Geschichte verschwindet und durch Design ersetzt“ wird. Dennoch leistet der Mythos von der Literaturhauptstadt der Realität bis heute hartnäckigen Widerstand. Berlin sei auch zwischen 1961 und 1989 kein Zentrum der deutschen Literatur gewesen, sagt Claudius Seidl von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Damals entstand eine von der CIA und dem (inzwischen zwangsvereinigten) SFB gesponserte Literatur, allen wohl und niemand weh, aber noch heute bestens beleumdet. Der weltläufige Hans Magnus Enzensberger spürte im Solarplexus das Nahen der Revolution, kam aus Norwegen zurück und kaufte sich ein Haus in Friedenau, langweilte sich aber dann doch so sehr, dass er sich eine Frau aus Russland holen musste. Friedenau war ein Dorf mit einer einzigen Kneipe, in der sich Grass und Uwe Johnson um die Wette betranken. Aber seltsam: Johnsons großes Großstadt-Epos Jahrestage erstreckt sich, unter Vermeidung Berlins, von Mecklenburg nach New York und dort auf die Weiden von Staten Island. Und Grass? Der Autor des kaschubischen Barockromans Die Blechtrommel verkam zum mitregierenden Bürgermeister von Berlin. Manchmal habe man sich, um den anderen nicht beim Kunstmachen zu stören, ein Manuskript unter der Tür durchgeschoben, hat der Komponist Hans Werner Henze erzählt. „Da gab es einen Zusammenklang, der von großer Produktivität war.“ Vielleicht stimmt das sogar.

Vor 25 Jahren dann der Mauerfall, die Reisefreiheit, und wieder zog alles nach Berlin, ließ sich vor Mauerresten fotografieren und stürmte allnächtlich mit einem Mundvorrat hilfreicher Pillen ins Berghain, aber was hat das neue Berlin für die Literatur gebracht? Ulrich Plenzdorf und Sven Regener werden zitiert, Nellja Veremej (Berlin liegt im Osten) ist die aktuelle Nachfolgerin Döblins, aber was ist das ge-gen Lutz Seilers metropolenfernen Kruso?

Der Schriftsteller Ulrich Peltzer will trotzdem das weiterhin Unfertige gefeiert haben, doch auch den Filmautoren Torsten Striegnitz und Simone Dobmeier wird klar, dass dieser vermutlich weltweit am gründlichsten subventionierte Land-strich nicht notwendig den großen Metropolenroman hervorbringt.

In Berlin schrieb der zugereiste Horváth dann seine besten Stücke, die Italienische Nacht (angesiedelt in einer bayrischen Kleinstadt) und die einmalig bösartigen Geschichten aus dem Wiener Wald. Der Monsterroman Berlin Alexanderplatz wird heute leider überhaupt nicht mehr gelesen. Rainer Werner Fassbinders Verfilmung, die zweite insgesamt, entstand – wo auch sonst? – bei der Bavaria in Geiselgasteig im schönen Isartal. Die lärmenden Busse fahren durch die Bergmannstraße, benannt nach Ingmar Bergman, der im gleichen Studio den Berlin-Film Das Schlangenei drehte. Dort toben die Straßenkämpfe, dort lebt die Mieze, und in einer Ecke war auch die Kneipe aufgebaut, in der Günter Lamprecht als Biberkopf sich immer mit seinem Verhängnis traf, mit Gottfried John. Berlin ist, falls sich das noch nicht herumgesprochen haben sollte, seit je nur eine Studioproduktion.

Berlin Stories, Arte, 21.45 Uhr.

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