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Wo man noch ein Bürgerschreck sein kann

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jetzt.de: Wunsiedel ist eine Stadt mit etwas mehr als 9000 Einwohnern. Wieso habt ihr denn ausgerechnet da einen Film gedreht?
Jonas: Wir wollten eine Gegend zeigen, in der Welten aufeinandertreffen. Wunsiedel liegt in einem Dreiländereck: Es gibt Osteuropa mit Tschechien, die neuen Bundesländer Richtung Norden und das reiche Bayern. Die alten Grenzen sind offen, bestehen aber in der Gesellschaft trotzdem noch weiter.
Lion: Die drei Städte Wunsiedel, Selb und Marktredwitz waren bis zur Wende das Zentrum der Porzellanindustrie. Nach 1989 ist die wirtschaftlich kaputtgegangen. Früher hatte jeder Ort sein Porzellanwerk, mittlerweile ist nur noch die Firma Rosenthal da. Seit mehr als zwanzig Jahren gibt es einen Abschwung, die jungen Leute sind weggegangen, es ist total entvölkert, es gibt keine Arbeit mehr. Auch die Politik hat nichts dagegen getan.
Jonas: Wunsiedel spiegelt sehr genau wider, was in dieser Gegend stattfindet: Die Industrie wandert seit Jahren ab, die jungen Menschen gehen in die Stadt und niemand weiß so genau, wie man damit umgehen soll.  




Lion und Jonas (v.l.)

Man kann das etwas verstehen. Schließlich ecken die Protagonisten ständig an, weil ihnen das normale Leben in Wunsiedel nicht reicht.
Jonas: Wunsiedel war mal der Ort mit der höchsten Kneipendichte Bayerns, jetzt gibt es noch zwei. Das soziale Leben und der materielle Besitz sind sehr viel weniger geworden. Und wenn du immer hörst, hier ist alles Käse und schwierig, dann sagst du nicht: Ich bin hier am richtigen Ort. Dann wird Berlin vielleicht zu einem Platzhalter für das Streben nach Glück. So war es zumindest bei Marge.  

Ihr größter Wunsch war es, nach Berlin zu ziehen.
Lion: Die Großstadt wird zum Sehnsuchtsort, auch unsere Protagonistin Edita wollte weg: nach Leipzig. Allerdings haben wir beim Filmen gemerkt: Vielen fehlt das Selbstbewusstsein, um einfach wegzugehen. Weil sie nicht genau wissen: Was erwartet sie in der Großstadt? Da ist eine große Hemmschwelle. Es schlägt sich auf das Selbstbewusstsein nieder, wenn du in einer Gegend lebst, die wirtschaftlich so schwach ist und eigentlich immer vergessen wurde. Es ist ein Teufelskreis.
Jonas: Obwohl Marge ein Studienplatzangebot für Berlin hatte, arbeitet sie jetzt in einem Callcenter. In Berlin, sagt sie, wäre es aber wahrscheinlich auch nicht anders. Sie hat Angst, mit den Leuten dort nicht so viel anfangen zu können. Und plötzlich hat sich Berlin für sie gewandelt – die Stadt steht für sie auch für ein Verlorengehen.  

Den Menschen kam der Mut abhanden, wegzugehen?
Jonas: Marge hat sich auch für ihren Lifestyle entschieden: das Abhängen, das auf Stunk gepolt sein gegen alles, dieses Außenseiterdasein als Lebensgefühl und Lebensentwurf. Sie ist die Provinz-Prinzessin. In Wunsiedel hat sie eine Sicherheit: Da kann sie etwas verändern, da kann sie anders sein und eine Position vertreten. Bei Keksi verhält es sich ähnlich: Er kämpft gegen Windmühlen. Er versucht noch härter, noch krasser, noch extremer in alle möglichen Richtungen unterwegs zu sein, nur um ja nicht so gelangweilt oder langweilig zu sein wie alle anderen. Wäre er in der Großstadt, würde er nicht auffallen, wie er es in Wunsiedel tut. In der Kleinstadt hat er die Möglichkeit, ein Bürgerschreck zu sein.  

Gerade aufgrund der Einöde bietet Wunsiedel eine Möglichkeit für Querdenker, sich selbst zu verwirklichen?
Lion: Ja. Man sieht das Gut an der Geschichte von Flo: Er hat sich ein eigenes Haus gebaut, schmeißt Techno-Partys. Er ist der einzige, der so etwas macht. Deshalb ist er einerseits darauf angewiesen, dass immer neue Generationen von Leuten, die noch da sind, ihn besuchen und Zeit mit ihm verbringen. Auf der anderen Seite ist er dafür der Lokalheld. An ihm kommt man nicht vorbei, wenn man in Wunsiedel ist.
Jonas: Wenn er seine Partys feiert, kommen mehrere tausend Leute. Die kommen aus allen Ecken und Winkeln, die fahren aus Berlin nach Wunsiedel, um auf dieser Party zu sein.  

Ist der Kampf gegen Widerstände eurer Meinung nach typisch für Wunsiedel oder für die Provinz an sich?
Jonas: Ich weiß nicht, ob das spezifisch für Wunsiedel ist. Auch anderswo wollen Jugendliche ihren Platz in der Gesellschaft finden, aber aufgrund irgendwelcher Umstände klappt es nicht.
Lion: Die Mühe, die du dir auf dem Dorf geben musst, etwas Ungewöhnliches durchzusetzen, ist ungleich größer, als wenn du Ansprechpartner in der Stadt hast. Du bist ein Einzelkämpfer, der aber auch schneller Aufmerksamkeit bekommt.  

Wie war es für euch persönlich, in Wunsiedel zu sein?
Jonas: Ich fahre bis heute eigentlich gerne wieder hin.
Lion: Trotzdem fand ich es manchmal frustrierend, weil die Leute teilweise so viel Potential haben. Diese Kreativität von Flo zum Beispiel. Man sieht: Da sind Leute, die wollen was, die haben einen starken Lebenswillen. Das Gefühl, wenn man die Menschen kennenlernt ist, dass sie nicht trostlos sind, doch der Ort verhindert ihr Aufblühen, weil es immer einen Widerstand gibt.
Jonas: Die Leute, die wir begleitet haben, sind Kämpfernaturen, aber trotzdem fast alle im Scheitern begriffen: Sie nehmen Drogen oder trinken zu viel. Man hat in Wunsiedel einen Zusammenhalt gefühlt, aber natürlich waren wir auch froh, dass wir selbst andere Möglichkeiten haben. Für mich bleibt der Landstrich ein Rätsel. Es ist ein Kosmos für sich. Die Gegend hat etwas Magisches: Manchmal ist es bezaubernd, dann wieder herrscht eine große Tristesse – das muss man erst mal unter eine Kappe kriegen. Für uns war es so, dass wir weggefahren sind und erst mal verdauen mussten.  

„Hinterwelten“ von Jonas Heldt, Lion Bischof und Felicitas Sonvilla läuft am Samstag, 22. November um 13:30 Uhr auf dem Münchner Internationalen Filmfest der Filmhochschulen als HFF-Special.

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