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Wir Widerlinge

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Ich ärgere mich nicht oft, aber heute Morgen tat ich es. Als ich dieses Video in meiner Timeline anklickte. Ich dachte: Jetzt, liebe Leute, reicht's. Jetzt kommt der Text, der sagt: Fickt euch. Der schreit: So sind wir nicht! Aber dann habe ich nochmal Luft geholt.

In dem Video torkelt eine junge Frau im kurzen Sommerkleid am hellichten Tag die Straße runter. In der Hand eine dieser braunen Papiertüten, mit denen Amerikaner ihre Alkoholflaschen verpacken, wenn sie in der Öffentlichkeit trinken wollen. Die Frau spricht fünf Männer an. Sie fragt lallend nach dem Bus und schwankt den Männern in die Arme. Und die Männer? Nehmen ihren Arm und sagen: "Whow, mal langsam." Einer sagt: "Komm mit, ich zeig dir, wo der Bus fährt." Vier sagen: "Komm doch lieber mit zu mir." Einer von ihnen sagt sogar: "Ich hab daheim ein Wasserbett."  

Mein erster Gedanke: Verdammt, ist das unfair!

Es ist mit versteckter Kamera gefilmt, genau wie dieses andere Filmchen, das letzte Woche jeder Mensch im Internet mindestens einmal angeklickt hat: "10 Hours of Walking in NYC as a Woman". Da läuft eine junge Frau schweigend herum und wird alle paar Sekunden von Männern angesprochen. Es folgten ähnliche Versuche in Auckland (wo die Frau kein einziges Mal belästigt wurde) und Berlin (ebenfalls null Belästigungen).

 

Männer sind Schweine. Nicht alle, aber das ist egal. 


Und jetzt also die Frau, die tut, als sei sie besoffen. Sie lacht, sie hält sich an den Männern fest, sie ist halt so, wie Menschen werden, wenn sie betrunken sind: zu lustig, zu laut, zu nah. Und die fünf Männer benehmen sich, wie manche werden, wenn sie notgeil sind: Sie grinsen lüstern. Sie bieten der Frau an, sie mit nach Hause zu nehmen.  

Die Message ist klar: Männer sind jederzeit bereit, eine orientierungslos wirkende Frau zu sich nach Hause zu schleppen. Sogar wenn es ein sonniger Nachmittag ist und sie eigentlich nur ums Eck Fahrradreifen kaufen wollten.  

Ich ärgerte mich also, und es ist jetzt ein bisschen schwer, das zu erklären, aber: Ich kam mir als Mann ungerecht behandelt vor. Alle Videos, die da in letzter Zeit kursieren, wurden auf einen Zweck hin produziert und geschnitten. Und dieser Zweck ist nicht, zu zeigen, was genau mit einem passiert, wenn man zehn Stunden durch New York läuft oder besoffen in der Öffentlichkeit ist. (Nämlich: Man sieht sehr viel von New York bzw. wird bald von Polizisten aufgegriffen.) Sondern zu zeigen, dass alle Männer potentiell Raubtiere sind. Dass man sich das Leben als Frau wie einen Spießrutenlauf zwischen sexhungrigen Hyänen vorzustellen hat.  

Hey!, dachte ich, jetzt mal langsam. Dass es Typen auf der Welt gibt, die vor wenig bis gar nichts zurückschrecken, um Sex zu bekommen, wussten wir doch. Oder? Wissen wir nicht, dass Mädchen wegen ein paar Pennern nun mal im Club keine Getränke auf der Bar abstellen sollten und nachts lieber ein Taxi nehmen? Alles schlimm und alles kacke, aber: Waren wir nicht schon mal weiter, als diese blöden Randerscheinungen unserer Geschlechterunterschiede mit versteckter Kamera rauszukitzeln? Müssen wir ernsthaft zehn Stunden Spaziergang auf die anstrengendsten 116 Sekunden zusammenschnurzeln, damit wir das checken?

Und warum diese freiwillige Opferrolle, die die Frauen da gewählt hatten? Warum nicht zeigen, wie man klug gegen solche Deppen vorgeht? Mit gutem Menschenverstand kommt’s doch nicht darauf an, ob ein Straßencasanova euch hinterherruft, weil ihr mit dem eh nicht redet, sondern darauf, dass ihr euch gute, nette Freunde sucht! Läuft als nächstes eine Frau im Bikini über eine Baumaschinenmesse und filmt, wie viele Männer sich nach ihr umdrehen? Really?!

Ich war in meinem Ärger schon gut angewärmt, dann redete ich mit ein paar Frauen. Und die sagten: Klar pfeifst du keiner Frau hinterher. Und klar beschwert sich nicht jede Freundin bei dir, wenn mal wieder jemand im Vorbeigehen einen anzüglichen Witz gemacht hat. Aber nur weil sich die meisten Frauen daran gewöhnt haben, ist die Sache noch lange nicht okay.

Wenn Mädchen auf der Straße vorsorglich Kopfhörer tragen, um nicht angequatscht zu werden, werden sie gezwungen, zu kapitulieren. Oder aber, sich zu wehren. Der Frau im New-York-Video haben ja viele vorgeworfen: Hätte sie halt mal reagiert, statt schweigend weiterzulaufen. Aber auch das wäre eine Kapitulation gewesen, vor einer subtilen männlichen Dominanz. Die sich zum Beispiel auch in einem Kompliment äußert: Wenn ein Mann "Tolle Haare!" ruft, ist das eine Bewertung, die eine Reaktion verlangt. Und wer reagiert, macht das Spiel mit. Kein Mann muss auf der Straße ständig reagieren, um nicht angefeindet zu werden.  

Nichts ist also gut, nur weil wir alle wissen, dass es so ist. Deshalb muss ich mich ärgern. Aber nicht über die Videos. Ach so, und dass ich am Anfang das Sommerkleid der angeblich Betrunkenen erwähnt habe, ist übrigens auch kacke. Im Englischen nennt man das "victim blaming".

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