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Verlassen und vergessen

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Es besteht kein Mangel an Ideen. Wie man inmitten der in Ballungszentren anzutreffenden Wohnraumnot alte, scheinbar überflüssig gewordene Bauwerke nutzen kann, um daraus Wohnraum zu gewinnen, dafür gibt es etliche Beispiele in Deutschland. Mitunter sind sie utopischer Art. Mut zur Lücke (wenn nicht gar zur Brücke) beweist zum Beispiel das so spektakuläre wie umstrittene Limburger Projekt „Living Bridge“ der Egenolf Entwicklungs- und Beteiligungsgesellschaft.



Leerstehende Gewerberäume in Wohnraum umwandeln? Ein bürokratischer Kraftakt.

An der Autobahn A3 könnte demzufolge zwischen Frankfurt und Köln eine mittlerweile marode Autobahnbrücke aus den 1960er-Jahren durch einen Neubau unmittelbar daneben ersetzt werden. Die Sanierung der alten Brücke wäre, wie so oft im Baugewerbe, teurer als ein Neubau. Doch auch der Abriss kostet etwas: ungefähr zehn Millionen Euro. „Warum die Brücke für viel Geld abreißen“, fragt sich nun der Investor, „wenn sich auch Geld damit verdienen lässt?“ Indem man nämlich das vorhandene Tragwerk nutzt, um daraus eine an Bienenwaben erinnernde Wohn-Brücke zu machen: Living Bridge.

Das wäre so etwas wie ein futuristischer Nachfahre des berühmten, im 14. Jahrhundert von Gerbern und Schlachtern genutzten Ponte Vecchio in Florenz. In Limburg allerdings entstünde in sechzig Metern Höhe über der Lahn kein Schlachter-Dorado wie am Arno, sondern „exklusiver Wohnraum“ plus „Wellnessareal und Medical Care“. Wobei sich die Frage stellt, ob man in Deutschland tatsächlich noch mehr Wellness braucht. Oder exklusiven Wohnraum mit Blick auf die A3.

Bräuchte man angesichts der aktuellen Brennpunkte in den Städten und Kommunen nicht eher – und zwar schnell und unbürokratisch – Wohnraum für Flüchtlinge, Studenten oder Leute, die sich in den Ballungsgebieten angesichts der heraufziehenden, zum Teil (wie etwa in Hamburg oder München) schon real spürbaren neuen Wohnungsnot exklusiven Wohnraum nun mal nicht leisten können? Fehlt es hier an Ideen zur Umnutzung? An Ideen zur Umgestaltung von Büro-Leerstand, der Millionen von sinnlosen Quadratmetern umfasst? Eher nicht. Es fehlt am Willen.

Vorhanden war dieser Wille zur Umwidmung von Büro- in Wohnraum jedoch, als man jüngst das teuerste Wohnen der Stadt Hamburg realisierte. Auf einem 50 000 Quadratmeter umfassenden Areal zwischen Harvestehuder Weg und Außenalster wurde ein neues Edler-Wohnen-Habitat in kürzester Zeit errichtet. Samt „Alstervillen“, „Townhouses“ und „Parkvillen“. Eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss war schon für eine schlappe halbe Million Euro im Angebot. Der Stellplatz dafür kostet auch nur 59 500 Euro.

Der inmitten des Areals gelegene, eigentlich denkmalgeschützte Nazi-Koloss des ehemaligen Generalkommandos der Wehrmacht, der zuletzt als Musterungsbehörde der Bundeswehr sowie als Büroraum genutzt wurde, durfte sogar nach Plänen von Karl Lagerfeld – und gegen den Einspruch der Denkmalschützer – umgebaut werden: Unter dem Säuselnamen „Sophienpalais“ hat der Projektentwickler aus einem alten Nazi-Büro-Monster Lebensraum für Besserwohnende geschaffen. Ganz still und unproblematisch.

Warum aber gelingt so ein Umbau nicht auch dort, wo er dringender geboten wäre? Dort also, wo die Mieten explodieren, wo Studierende abgezockt, gedemütigt oder schlicht verraten werden und wo sich die Flüchtlingsströme an der Hartleibigkeit der Bürokraten brechen? Warum ist es so schwer, Wohnraum zu schaffen – angesichts des vorhandenen umbauten Raumes, der nicht genutzt wird und vor sich ineffizient und etwas asozial hindämmert?

Aktuelles Beispiel: In München prüfen Stadt und Sozialministerium, ob etwa ehemalige Siemens-Büros im Stadtteil Bogenhausen als Flüchtlingsunterkünfte zumindest zwischengenutzt werden könnten. Man darf darauf gespannt sein, wie lange sich die Prüfung hinzieht. Was wäre, würde sich ein Premium-Investor für die Büroburg interessieren, um daraus Wellness-Wohnen zu machen? Der Skandal, der darin liegt, dass langwierig zu prüfen ist, was anderswo zugunsten einer anderen Klientel reibungsärmer geschieht, ist derart offenbar, dass sich schon eine Stadt-Guerrila etabliert hat. In München nennen sich die Aktionisten „Goldgrund Immobilien“, es gibt die Facebook-Seite „Leerstand zu Wohnraum“ oder den „Leerstandsmelder.de“, der für „neue Möglichkeitsräume“ wirbt: „In vielen Städten suchen Menschen bezahlbare Wohnungen. Gleichzeitig stehen unzählige Flächen leer.“

Dem aus Österreich stammenden, in München als Architekt ansässigen und in Los Angeles lehrenden Wohnbau-Experten Peter Ebner zufolge wäre die Umnutzung von Gewerberäumen durchaus im Sinne der Städte. „Allerdings kommt es auf den Einzelfall an. Grundsätzlich geht es in der Stadtplanung ja um eine Balance aus Wirtschafts- und Wohnräumen – und es geht um langfristige Planungssicherheit.“
Der 46-jährige Architekt, der für Bauträger Umnutzungsstudien erstellt hat, etwa in Sendling, ergänzt: „Man könnte Gewerbegebiete, die heutzutage ja meist Räume für Dienstleistungen beinhalten, die also geräuschärmer sind als etwa Bauten für das produzierende Gewerbe, viel intelligenter definieren. Außerdem machen neue Bau-Technologien, hochdichte Fenster oder die automatisierte Be- und Entlüftung, das Wohnen auch dort möglich, wo es früher unmöglich erschien.“

Dagegen steht allerdings oft das Recht, denn Wohnnutzung ist nur in bestimmten Gebieten bauplanungsrechtlich zulässig. Daher kann nicht aus jeder Büroimmobilie ein Wohnhaus werden. Hinderlich sind im Einzelfall: das Abstandsflächenrecht, die Frage der Pkw-Stellplätze, die Freiflächengestaltung, Brand-, Lärm- und Schallschutzanforderungen . . .Letztlich geht es hier aber um die bürokratische Überformung unserer Lebensverhältnisse. Niklas Maak fordert in seinem soeben erschienenen Buch „Wohnkomplex – Warum wir andere Häuser brauchen“: „Die Baunutzungsverordnung muss geändert werden.“

Befreit also das Wohnen von den Bürokraten! Schafft neue Räume, andere Räume – letztlich: eine neue Welt. Schafft eine Welt, in der nicht nur Wellnessbedürftige an der Extravaganz von Autobahnbrücken oder Lagerfeld-Nazi-Bauten teilhaben. Planer, so ein Bonmot von Claude-Nicolas Ledoux im 18. Jahrhundert, seien die „Titanen der Erde“. Dann sollte es den Titanen aus Politik und Immobilienwirtschaft auch möglich sein, gerechten und zukunftstauglichen Wohnraum zu bauen. Und zwar jetzt.


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