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Flüchtling erster Klasse

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Seit vergangenem Jahr hat Deutschland ein "Resettlement-Programm". Ein paar hundert Flüchtlinge werden damit jährlich hier angesiedelt - ohne langes Verfahren, unbürokratisch und zeitlich unbegrenzt. Siyad, 19, war unter den ersten Auserwählten. Ihm hat das Programm ein neues Leben geschenkt.

Manchmal geht Siyad nach der Sprachschule noch zum Hamburger Hauptbahnhof und spricht Leute an. Er bittet sie, sich mit ihm zu unterhalten. Ein bisschen gegen die Langeweile, ein bisschen auch um sein Deutsch zu verbessern. Und auch wenn es ihm manchmal schwer fällt, die Worte in seinem Kopf zusammenzusuchen, kann der 19-Jährige nach einem knappen Jahr in Deutschland das meiste verstehen. 

Siyad stammt aus Somalia und lebt als Flüchtling in Deutschland. Mit 14 ist er vor den Islamisten der al-Shabaab aus Mogadischu geflohen. „Ich habe Menschen am Straßenrand gesehen, von denen ich nicht sagen kann, ob sie Durst hatten oder bereits tot waren“, sagt Siyad. Über Kenia, Sudan und die Sahara gelangte er nach Libyen. Als der Krieg gegen Gaddafi begann, musste er weiterfliehen. Er landete in einem tunesischen Flüchtlingslager in der Wüste. Nachdem die meisten anderen Flüchtlinge in ihre Heimatländer zurückgeflogen worden waren, blieben Siyad und andere Schwarzafrikaner zurück. Ihre Heimatländer waren zu unsicher für eine Rückkehr, auch nach Libyen konnten sie nicht zurück. Schwarze gelten dort als Ex-Söldner Gaddafis oder „Illegale“. Sie steckten in einer Sackgasse.  



Siyad, 19, konnte weder zurück nach Somalia, noch zurück nach Libyen. Das Resettlement-Programm hat ihn gerettet.


Wegen dieser Umstände hat Siyad heute mit dem durchschnittlichen Asylsuchenden in Deutschland wenig gemeinsam. Er ist über ein neues Programm nach Deutschland gekommen, das sogenannte Resettlement-Programm. Es verschaffte ihm eine sofortige Arbeitserlaubnis, die Reisefreiheit ohne Residenzpflicht und den vollen Sozialleistungssatz. Sobald er ausreichend Deutsch spricht, darf er arbeiten und in Europa herumreisen. Er darf studieren und seine Familie nachreisen lassen – sofern er qualifiziert ist und genügend Geld verdient. Siyad ist eine Art Flüchtling erster Klasse.  

Nach anderthalb Jahren im tunesischen Flüchtlingslager kamen deutsche Beamte ins Lager. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hatte ihnen vorab eine Liste von Flüchtlingen mit „besonderem Schutzbedürfnis“ geschickt. Die Beamten arbeiteten für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und wählten nun Kandidaten für das deutsche Resettlement-Programm aus – sie verteilten Plätze für das große Los in Deutschland.  

Das Resettlement-Programm der UNHCR siedelt Flüchtlinge in Europa, den USA, Kanada oder Australien neu an. Voraussetzung ist, dass die Rückkehr ins Heimatland oder das Land ihrer ersten Zuflucht unmöglich ist, weil dort Krieg herrscht oder Verfolgung droht. Das Programm soll den Übriggebliebenen der schlimmsten Konflikte der Welt helfen. Es ist das Rettungsprogramm für den Bodensatz der Vertriebenen, die letzte Hoffnung der Hoffnungslosesten.  

Die Anderen im Lager kämpften verzweifelt um Aufnahme in das Programm - meist vergeblich.



Die deutschen Beamten interviewten Siyad. Sie untersuchten ihn medizinisch und ließen ihn einen Fragebogen ausfüllen.  

Als Minderjähriger hatte er bessere Chancen als viele Erwachsene im Lager. Viele von ihnen kämpften verzweifelt um ihre Anerkennung als Resettlement-Flüchtling – später warfen einige dem UNHCR vor, Dolmetscher von feindlich gesinnten Volksgruppen eingesetzt zu haben. Mittlerweile ist das Lager geschlossen. Die Zurückgebliebenen mussten weiterfliehen oder ihr Glück in Tunesien versuchen.  

Siyad dagegen stieg Anfang September 2012 in ein Flugzeug nach Hannover. „Ich wusste damals nicht einmal, wo Deutschland liegt“, sagt Siyad. Es war sein erster Flug.

Jahrzehntelang hatten Flüchtlingsverbände und der UNHCR für ein Programm wie das Resettlment-Programm in Deutschland geworben. Die Bundesrepublik verfolgte aber stets eine andere Politik. Bei humanitären Krisen entschied die Bundesregierung meist spontan, holte größere Flüchtlingsgruppen nach Deutschland und gab ihnen ein begrenztes Aufenthaltsrecht. Erst kürzlich entschied die Bundesregierung, 5000 Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Sie sollen für mindestens zwei Jahre in Deutschland bleiben dürfen, aber was danach kommt, ist ungewiss. Vom Status eines Resettlement-Flüchtlings können sie nur träumen.  

Siyad lebt seit einem Jahr in Hamburg. Er möchte Fußballprofi werden, das wollen alle Jungs in Deutschland, sagt er. In weniger mutigen Momenten würde es ihm auch reichen, seine Elektrikerlehre fortführen zu dürfen – die hat er schon in Mogadischu begonnen. Dazu muss er jedoch erst Deutsch lernen, was ohne deutsche Freunde schwierig sei. „In Afrika wirst du auf der Straße von jedem angesprochen, hier ist das anders“, sagt Siyad. Deshalb geht er ein- bis zweimal in der Woche in die Hamburger Zentralbibliothek. Zum Konversationstraining.  

Es ist ein Freitag im August, rund 30 Menschen verschiedener Herkunft sitzen um einen Tisch in einem Eckzimmer der Bibliothek und reden miteinander, um ihr Deutsch zu verbessern. Heute geht es um Hausmittel, die bei verschiedensten Wehwehchen helfen. Eine Frau mit russischem Zungenschlag empfiehlt kaltes Wasser bei Kopfschmerzen. Ein älterer Herr mit türkischem Akzent denkt lange nach und sagt schließlich: „Aspirin“. Siyad hört aufmerksam zu. Er weiß, dass er seine Familie nur dann wiedersehen kann, wenn er selbst Geld verdient.  

Die USA nehmen 66.000 Flüchtlinge im Jahr auf - Deutschland gerade mal 300.


Vorsichtig formuliert er einen deutschen Satz: „Meine Mutter machte bei Kopfschmerzen immer schwarzen Tee.“ In diesem Moment spricht er von einer Vergangenheit, die immer mehr verschwimmt. Seine Mutter und die drei jüngeren Brüder leben noch in Mogadischu, er hat sie vor vier Jahren das letzte Mal gesehen. Damals war er noch ein Kind. Jetzt ist er ein junger Mann, der in Hamburg lebt. Wenn er Kopfschmerzen hat, geht er zu einem Mitarbeiter der Arbeiterwohlfahrt und fragt nach einem Arzt.  

„Dass Deutschland dieses Programm gestartet hat, ist bereits ein Erfolg“, sagt Andrea Kothen von der unabhängigen Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. „Doch in der jetzigen Größenordnung ist es nur ein Versuch.“ Denn die 86.000 Resettlement-Plätze, die weltweit pro Jahr zur Verfügung stehen, reichen bei weitem nicht aus. Der UNHCR geht von einem Bedarf von mindestens 691.000 Plätzen aus. Das sei noch vorsichtig geschätzt, sagt Kothen, wenn man nur an die Hunderttausende Flüchtlinge allein im Südsudan und den Nachbarstaaten denke.  

Während es in Skandinavien bereits seit Ende des Zweiten Weltkriegs Resettlement-Programme gibt, hat Deutschland sein Programm erst 2012 gestartet. Und das äußerst zaghaft: Die Bundesrepublik hat im vergangenen Jahr gerade mal 300 Resettlement-Flüchtlinge aufgenommen. Schweden siedelte im selben Zeitraum 1900 Menschen an, die USA rund 66.000.  

Wie die meisten Flüchtlinge ist auch Siyad von dem Wunsch beseelt seine Familie nach Deutschland zu holen, ihnen sein neues Leben zu zeigen. Vor allem möchte er wissen, wie seine Mutter reagieren wird. Zuletzt hat er sie vor zwei Jahren gesprochen. Vom tunesischen Flüchtlingslager aus rief er sie an. Als sie das Telefon in Mogadischu abhob, fiel sie ihn Ohmacht. Auch deshalb möchte Siyad sie beim nächsten Mal lieber persönlich treffen und in die Arme schließen.   


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