In den Sommerferien werden besonders viele Mädchen zwangsverheiratet, warnt die britische Regierung. Ihre Abwesenheit fällt jetzt besonders lang nicht auf. Wir haben mit der Frauenschutzorganisation "Terre Des Femmes" über die Lage in Deutschland gesprochen.
Gerade in den Sommerferien gewinnt das Thema Zwangsehen besondere Bedeutung: Wenn ihr Fehlen nicht sofort auffällt, werden Kinder und Jugendliche verstärkt ins Ausland gebracht. In Großbritannien hat die Regierung deshalb jüngst Lehrer, Ärzte und das Flughafenpersonal zu besonderer Aufmerksamkeit gemahnt. 400 Anzeigen seien demnach allein zwischen Juni und August des vergangenen Jahres bei der zuständigen Behörde eingegangen. Schätzungen zufolge sollen bis zu 5000 Menschen aus Großbritannien im Jahr 2012 zwangsverheiratet worden sein. Mehr als ein Drittel war zu dem Zeitpunkt jünger als 16.
Wir haben mit Monika Michell, bei „Terre Des Femmes“ im Referat "Gewalt im Namen der Ehre" tätig,über die Situation in Deutschland gesprochen. Die gemeinnützige Menschenrechtsorganisation hat an einer 2011 veröffentlichten Studie des Familienministeriums zum Thema "Zwangsverheiratung" mitgearbeitet.
jetzt.de: Frau Michell, ist die Situation in Deutschland mit der in Großbritannien vergleichbar?
Monika Michell: Jein. Laut der Studie des Familienministeriums gab es in Deutschland im Jahr 2008 mehr als 3400 Betroffene, die sich an Hilfs- und Beratungsstellen gewendet haben. Anders als in Großbritannien, wo Pakistani am häufigsten betroffen sind, stellen hier Menschen aus der Türkei die größte Gruppe. Etwas mehr als 30 Prozent sind in Deutschland geboren, 23 Prozent in der Türkei. Danach kommen Serbien/Kosovo/Montenegro und der Irak mit acht beziehungsweise sechs Prozent.
Dabei sind nur diejenigen erfasst, die wirklich Hilfe gesucht haben. Wobei in der Studie eingeräumt wird, dass einige wenige bei mehreren Stellen gefragt haben und deshalb mehrfach erfasst wurden. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen, oder?
Ja. Denn die Hemmschwelle ist bei den Betroffenen oft extrem hoch. Sie wachsen meist in einem sehr engen Familienverband mit strengen Verhaltenskodizes auf. Die Familie steht über allem. Was in ihr passiert, bleibt auch dort. Wer da nach außen tritt, verletzt in dieser Logik das Ansehen der Familie.
Welche Sanktionen können folgen?
Alle, die man sich vorstellen kann: von der Ächtung über Gewalt bis hin zu Mord.
Wie ist denn die Altersverteilung unter den Betroffenen?
Das war wohl das Erschreckendste an der Studie: etwa 70 Prozent sind jünger als 21, knapp ein Drittel ist sogar jünger als 18.
Monika Michell
Sind eigentlich nur Mädchen betroffen?
97 Prozent sind weiblich. Drei Prozent sind damit Jungen, für die es eigentlich eigene Beratungsstellen bräuchte.
Warum?
Die ganzen Hilfsstrukturen und auch die Beraterinnen sind ausgelegt und spezialisiert auf Mädchen und deren spezielle Probleme. Auf Jungen und Männer lässt sich die Hilfe nicht eins zu eins anwenden. Eine Unterbringung in Schutzwohnungen und Frauenhäuser gibt es nur für Frauen.
Wie unterscheiden sich die Probleme?
Für Jungen ist alles ähnlich tragisch. Sie haben aber vor allem vor der Ehe oft mehr Spielraum: Solange sie irgendwann die ausgewählte Frau heiraten, haben sie viel größere Freiheiten. Und in der Ehe unterliegen sie meistens nicht denselben Einschränkungen wie die Frauen.
Wie sehen die aus?
Die Frauen werden meist komplett isoliert. Sie müssen oft ihre Ausbildungen abbrechen. Über soziale Kontakte bestimmt der Mann beziehungsweise die Familie.
Gibt es typische Anzeichen, an denen Betroffene erkennen können, dass sie zwangsverheiratet werden sollen?
Natürlich keine starren. Oft sagen Mädchen aber, dass sie eine glückliche Kindheit hatten. Bis irgendwann, meist mit der Pubertät, plötzlich viele Verbote kamen: Sie mussten sich bedeckt anziehen, durften nicht mehr ausgehen. Vielen ist vorher auch eine rege Aktivität zu Hause aufgefallen: Telefonate mit der Verwandtschaft, besonders aufwendige Urlaubsplanungen. Zum Teil wird die Ehe aber auch offen angesprochen. Wenn ältere Geschwister schon betroffen waren, wird es bei einem selbst auch ziemlich sicher irgendwann kommen.
Was mache ich dann?
Das wichtigste ist, dass Betroffene ein möglichst niedrigschwelliges Angebot finden. Sie müssen die Möglichkeit haben, sich heimlich im Internet zu informieren. Und zwar schon über ganz grundlegende Fragen. Sie brauchen beispielsweise die Bestätigung, dass ihnen tatsächlich ein Unrecht widerfährt. Die Seite www.zwangsheirat.de bietet dafür etwa Blogs an, in denen andere Mädchen über ihre Erfahrungen berichten. Dazu gibt es Hilfe in Chats und eine Karte mit Beratungsstellen. Die Betroffenen brauchen aber vor allem Bezugspersonen. Hier sind Lehrkräfte stärker gefordert, die die Jugendlichen fast täglich sehen.
Das klingt nach einer großen Verantwortung.
Deshalb bieten wir auch Schulungen an. Im vergangenen Jahr haben wir in Hessen zehn Kurse organisiert. In diesem Jahr sind wir in Berlin. Das sind zentrale Veranstaltungen, zu denen alle Lehrer und Lehrerinnen, unabhängig von der Schule, an der sie arbeiten, kommen können.
Sie sagen „kann“. Die Lehrer und Lehrerinnen müssen also auf Sie zukommen? Das sind keine verpflichtenden Kurse?
Sie sind freiwillig. Aber sie helfen!
Gerade in den Sommerferien gewinnt das Thema Zwangsehen besondere Bedeutung: Wenn ihr Fehlen nicht sofort auffällt, werden Kinder und Jugendliche verstärkt ins Ausland gebracht. In Großbritannien hat die Regierung deshalb jüngst Lehrer, Ärzte und das Flughafenpersonal zu besonderer Aufmerksamkeit gemahnt. 400 Anzeigen seien demnach allein zwischen Juni und August des vergangenen Jahres bei der zuständigen Behörde eingegangen. Schätzungen zufolge sollen bis zu 5000 Menschen aus Großbritannien im Jahr 2012 zwangsverheiratet worden sein. Mehr als ein Drittel war zu dem Zeitpunkt jünger als 16.
Wir haben mit Monika Michell, bei „Terre Des Femmes“ im Referat "Gewalt im Namen der Ehre" tätig,über die Situation in Deutschland gesprochen. Die gemeinnützige Menschenrechtsorganisation hat an einer 2011 veröffentlichten Studie des Familienministeriums zum Thema "Zwangsverheiratung" mitgearbeitet.
jetzt.de: Frau Michell, ist die Situation in Deutschland mit der in Großbritannien vergleichbar?
Monika Michell: Jein. Laut der Studie des Familienministeriums gab es in Deutschland im Jahr 2008 mehr als 3400 Betroffene, die sich an Hilfs- und Beratungsstellen gewendet haben. Anders als in Großbritannien, wo Pakistani am häufigsten betroffen sind, stellen hier Menschen aus der Türkei die größte Gruppe. Etwas mehr als 30 Prozent sind in Deutschland geboren, 23 Prozent in der Türkei. Danach kommen Serbien/Kosovo/Montenegro und der Irak mit acht beziehungsweise sechs Prozent.
Dabei sind nur diejenigen erfasst, die wirklich Hilfe gesucht haben. Wobei in der Studie eingeräumt wird, dass einige wenige bei mehreren Stellen gefragt haben und deshalb mehrfach erfasst wurden. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen, oder?
Ja. Denn die Hemmschwelle ist bei den Betroffenen oft extrem hoch. Sie wachsen meist in einem sehr engen Familienverband mit strengen Verhaltenskodizes auf. Die Familie steht über allem. Was in ihr passiert, bleibt auch dort. Wer da nach außen tritt, verletzt in dieser Logik das Ansehen der Familie.
Welche Sanktionen können folgen?
Alle, die man sich vorstellen kann: von der Ächtung über Gewalt bis hin zu Mord.
Wie ist denn die Altersverteilung unter den Betroffenen?
Das war wohl das Erschreckendste an der Studie: etwa 70 Prozent sind jünger als 21, knapp ein Drittel ist sogar jünger als 18.
Monika Michell
Sind eigentlich nur Mädchen betroffen?
97 Prozent sind weiblich. Drei Prozent sind damit Jungen, für die es eigentlich eigene Beratungsstellen bräuchte.
Warum?
Die ganzen Hilfsstrukturen und auch die Beraterinnen sind ausgelegt und spezialisiert auf Mädchen und deren spezielle Probleme. Auf Jungen und Männer lässt sich die Hilfe nicht eins zu eins anwenden. Eine Unterbringung in Schutzwohnungen und Frauenhäuser gibt es nur für Frauen.
Wie unterscheiden sich die Probleme?
Für Jungen ist alles ähnlich tragisch. Sie haben aber vor allem vor der Ehe oft mehr Spielraum: Solange sie irgendwann die ausgewählte Frau heiraten, haben sie viel größere Freiheiten. Und in der Ehe unterliegen sie meistens nicht denselben Einschränkungen wie die Frauen.
Wie sehen die aus?
Die Frauen werden meist komplett isoliert. Sie müssen oft ihre Ausbildungen abbrechen. Über soziale Kontakte bestimmt der Mann beziehungsweise die Familie.
Gibt es typische Anzeichen, an denen Betroffene erkennen können, dass sie zwangsverheiratet werden sollen?
Natürlich keine starren. Oft sagen Mädchen aber, dass sie eine glückliche Kindheit hatten. Bis irgendwann, meist mit der Pubertät, plötzlich viele Verbote kamen: Sie mussten sich bedeckt anziehen, durften nicht mehr ausgehen. Vielen ist vorher auch eine rege Aktivität zu Hause aufgefallen: Telefonate mit der Verwandtschaft, besonders aufwendige Urlaubsplanungen. Zum Teil wird die Ehe aber auch offen angesprochen. Wenn ältere Geschwister schon betroffen waren, wird es bei einem selbst auch ziemlich sicher irgendwann kommen.
Was mache ich dann?
Das wichtigste ist, dass Betroffene ein möglichst niedrigschwelliges Angebot finden. Sie müssen die Möglichkeit haben, sich heimlich im Internet zu informieren. Und zwar schon über ganz grundlegende Fragen. Sie brauchen beispielsweise die Bestätigung, dass ihnen tatsächlich ein Unrecht widerfährt. Die Seite www.zwangsheirat.de bietet dafür etwa Blogs an, in denen andere Mädchen über ihre Erfahrungen berichten. Dazu gibt es Hilfe in Chats und eine Karte mit Beratungsstellen. Die Betroffenen brauchen aber vor allem Bezugspersonen. Hier sind Lehrkräfte stärker gefordert, die die Jugendlichen fast täglich sehen.
Das klingt nach einer großen Verantwortung.
Deshalb bieten wir auch Schulungen an. Im vergangenen Jahr haben wir in Hessen zehn Kurse organisiert. In diesem Jahr sind wir in Berlin. Das sind zentrale Veranstaltungen, zu denen alle Lehrer und Lehrerinnen, unabhängig von der Schule, an der sie arbeiten, kommen können.
Sie sagen „kann“. Die Lehrer und Lehrerinnen müssen also auf Sie zukommen? Das sind keine verpflichtenden Kurse?
Sie sind freiwillig. Aber sie helfen!