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Engel

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Tschick-Fortsetzung aus Isas Perspektive angefangen. Mach ich aber nicht. Mach ich nicht“, notiert Wolfgang Herrndorf am 19. Juni 2011 – da steckt er noch mitten in der Arbeit an dem Roman „Sand“, dem letzten Buch, das er vor seinem Tod im August 2013 abschließen konnte. Das zweifache Dementi zeigt, wie groß die Versuchung war, eine Episodenfigur aus seinem Erfolgsroman auszukoppeln und die Geschichte des „Müllmädchens“, wie es in einem frühen Entwurf zu „Tschick“ heißt, als Komplementärerzählung zu entwickeln.

Dass Herrndorf dann tatsächlich weiterschrieb an dem Text mit dem Arbeitstitel „Isa“, hatte allerdings auch sehr prosaische Gründe. Zu weit war seine Krebserkrankung bereits fortgeschritten, als dass an eine Fortsetzung größerer Projekte zu denken war. Aber der Stoff für eine kleine Road Novel schien überschaubar genug zu sein für einen Versuch: „... schreibt sich wie von selbst. Und praktisch: kein Aufbau. Man kann Szene an Szene stricken, irgendwo einbauen, irgendwo streichen, irgendwo aufhören“, heißt es in dem Blog „Arbeit und Struktur“, dem digitalen Tagebuch über das Leben mit der unheilbaren Krankheit, das Herrndorf zu führen begonnen hatte, nachdem bei ihm ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert worden war.



"Bilder deiner großen Liebe" war Wolfgang Herrndorf letzter Roman

Die Hoffnung aber, wenigstens dieses Buch noch beenden zu können, schwand von Tag zu Tag. Herrndorfs Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. In unvollendeter Form wollte er das Manuskript jedoch nicht veröffentlichen. „Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen“, das hatte er sogar testamentarisch verfügt. Erst eine Woche vor seinem Tod ließ Herrndorf sich von den Freunden Marcus Gärtner und Kathrin Passig, die nun als Herausgeber fungieren, überzeugen, den unfertigen Roman trotzdem zu publizieren.

Aber als offene Baustelle, also nach Art einer kritischen Ausgabe mit Varianten und Anmerkungen, unausgeführten oder ungefügen Passagen, sollte der Text, so die nächste Kautel Herrndorfs, ebenfalls nicht erscheinen, sondern als lineare Erzählung ohne jeden „Germanistenscheiß“. Am Ende oblag es den Herausgebern zu streichen, zu redigieren, umzustellen, Varianten zusammenzuführen und eine zusammenhängende Lesefassung zu erstellen. Die offene Struktur einer Stationenreise erleichterte ihnen die Arbeit im Steinbruch. Als Buch kommt diese Fassung an diesem Freitag in den Handel, mit einem Nachwort, in dem die Entstehungsgeschichte nachzulesen ist.

Ein harmonisch geglättetes Konstrukt ist das nachgelassene Prosastück Herrndorfs zum Glück nicht geworden – Lücken im Text wurden nicht retuschiert, Brüche und Widersprüche finden sich zuhauf. Einmal heißt es, Isas Vater sei gestorben, ein anderes Mal denkt sie darüber nach, welchen Kummer sie ihm bereitet. An einer Stelle trägt sie Verbände an den Füßen, kurz darauf sind diese hochgerutscht bis zu den Schultern „wie zwei Schwanenflügel“ – aber sind hier nicht in Wahrheit Engelsflügel gemeint? Es gibt allerhand Anschlussfehler, und die Topografie wechselt genauso abrupt, wie es die Jahreszeiten tun. Teilweise aber wirkt es, als sei Disparatheit durchaus beabsichtigt, handelt es sich doch bei Isa um eine notorisch unzuverlässige Erzählerin, der Erträumtes und Erlebtes surreal verflimmern. Einmal stellt sie sich vor, wie ihr Leben weiterginge, wenn es ein Roman wäre.

Dieser Roman ist es, den wir nun lesen können, er heißt „Bilder deiner großen Liebe“ – den Titel hatte Herrndorf noch selber festgelegt – und die Bilder, die hier beschworen werden, sind Traumbilder oder das, was man ehedem „Gesichte“ nannte. Ganz nah und heutig und dabei unendlich fern erscheint einem ja dieses Mädchen mit seinen vierzehn Jahren, blutjung und uralt im selben Moment – Walter Benjamin hat diese Gleichzeitigkeit einmal als Aura definiert. Und das Possessivpronomen im Titel – man kann es auf Maik Klingenberg aus „Tschick“ beziehen, der sich sofort in Isa verliebt, und ebenso auf den Autor. Beinahe hätte Isa Maik geküsst, doch dann ließ sie nicht nur ihn, sondern beide unerlöst zurück: den pubertierenden Maik und den todkranken Wolfgang Herrndorf.

Ganz offensichtlich hat dieser sich mit Isa eine Sehnsuchtsfigur erschrieben, einen dunkel bestrahlten Schutzengel, auf den er viel projiziert. Es ist, als sollte sie ihm die Angst nehmen, ihn an ihrer Hand zum Abschied führen. Einmal heißt es: „Ich stelle mir vor, jemand sieht mich von oben, aber niemand sieht mich. Dabei liege ich so malerisch. Das glaube ich, und ich fühle mich so wohl und so tot und wie ein aufgestauter Fluss, über den in der Nacht immer wieder einmal der Wind geht.“

Vordergründig ist „Bilder deiner großen Liebe“ die Geschichte einer jugendlichen Ausreißerin – „Isa bricht aus der Klapse aus“, so skizzierte Herrndorf in einer Mail die Handlung. Aber was man dabei immer mitliest und was den Roman noch mal ganz anders beglaubigt, ist die Tragödie eines sterbenden Mannes, der nicht allein in den Tod gehen will und sich eine Begleiterin imaginiert. In einer Szene hat sich Herrndorf sogar als Figur in den Roman geschmuggelt: Er ist der Mann, dem Isa auf einem Friedhof begegnet, identifizierbar an seiner grünen Trainingsjacke.

Wie die beiden gleichaltrigen Kumpel Maik Klingenberg und der titelgebende Tschick aus Herrndorfs Weltbestseller, die in einem geklauten Lada unterwegs sind, vorgeblich in die Walachei, aber eigentlich zu sich selbst, hat sich auch Isa aufgemacht. Aus „Tschick“ wissen wir, dass Isa ihre Halbschwester besuchen will. Und dass sie sich mit Maik in Berlin verabredet hat. Isa ist den Jungs zugelaufen wie ein streunender Köter, der sich nicht abschütteln lässt. Auf einer Müllkippe war das, wo die beiden nach einem Schlauch suchten, um Benzin abzuzapfen. Isa weiß, wie man so was macht.

Ein Stück fährt sie im Lada mit, ein völlig versifftes, stinkendes Gör mit nie stillstehendem Mundwerk. „Tolle Figur, aber voll asi“, heißt es in den Worten von Tschick. Isa hat immer den schnelleren Spruch auf Lager – und den härteren sowieso. Obwohl sie nur kurz auftritt im Buch, ist Isa zu einer unvergesslichen Figur geworden, die sich ins Gedächtnis der Leser gebrannt hat. Ein Märchenwesen irgendwo zwischen Gossen- und Himmelskind, eine verwunschene Königstochter, aus Wahn und Witz gemacht, ganz aus dieser und zugleich nicht von dieser Welt. „Ich bin kein Mädchen wie andere“, sagt sie.

Isa ruft Erinnerungen wach an literarische Vorgängerinnen, von Goethes rätselhafter Mignon bis hin zu Raymond Queneaus wilder Zazie – und sind nicht die barfüßigen Kinder der deutschen Märchenromantik ebenso verlorene Figuren aus dysfunktionalen Familien? Abgedunkelter ist der Ton von „Bilder deiner großen Liebe“, langsamer der Erzählrhythmus, auch weil Isa ihren Weg zu Fuß macht. Es ist eine Wanderung durch ein Autobahn-Deutschland, das Herrndorf mythisch auflädt. Ein profanes Wunderland, halb Industrie-, halb Märchenpark, eine kaputte Seelenlandschaft natürlich. Außer ihrem Tagebuch hat Isa nichts dabei, nicht einmal Schuhe, blutende Füße sind das Stigma der Straße – es gibt noch andere biblische Anspielungen im Roman.

Wie Isa in die Psychiatrie geraten ist, erfahren wir nicht, nur dass sie eine kleptomane Phase hatte und eine überschießende Phantasie sowie einen starken Todestrieb besitzt, denn: „das Glück macht nie so glücklich wie das Unglück unglücklich.“ Zu den Himmelsmächten unterhält Isa, geboren im Sternzeichen der transzendentalen Obdachlosigkeit, eine ganz besondere Beziehung. Bei ihr aber klingt das so: Sie komme vom Planeten Trastámara und sei nur zu Besuch auf der Erde. „Isabel, Herrscherin über das Universum, die Planeten und alles“ sei ihr Name, zu Hause „in zwei Welten“, der dunklen und der anderen. Oder anders gesagt: „Ich komme aus der Scheiße, und in die Scheiße gehe ich irgendwann auch wieder. Aber zwischendurch werde ich berühmt.“ Und zwar als Moderatorin beim Fernsehen.

Als literarische Figur ist Isa bereits durch „Tschick“ berühmt geworden. Im neuen Buch vermag sie, mühelos mit einem taubstummen Kind zu sprechen, und entert den Frachter eines Binnenschiffers, der mal Bankräuber gewesen sein will. Sie mäht den Rasen bei einem Schriftsteller, und flüchtet schließlich aus dessen Haus, indem sie aus dem Fenster klettert. „Geht man durch die Tür“, sagt sie, „dann geht man in die Alltagswelt mit ihren Gewohnheiten und ihrem Schmutz. Steigt man aus dem Fenster, gelangt man in einen Raum wie in seinem eigenen Inneren.“

Und Isa bietet sich einer Jungsclique vor einem Supermarkt an, für ein paar Euro würde sie dem Anführer einen blasen. „Die Hölle bin ich“, sagt Isa und lässt sich später mitnehmen von einem Lkw-Fahrer. Bei einer Pinkelpause entdeckt sie die verdurstenden Schweine im Hänger und gibt ihnen zu trinken, während das wahre Schwein, der Fahrer, sich am Straßenrand ungehemmt einen runterholt auf seine hübsche Beifahrerin.

Und schließlich kreuzt sich ihr Weg mit dem von Maik und Tschick, wobei die Reprise ihrer Begegnung ganz lakonisch gehalten ist, sei es, weil dieses Passage noch nicht ausgearbeitet worden war, sei es, weil es hier um etwas anderes geht: um Isa und ihre Geschichte, die davon handelt, wie man sich existenziell verlaufen kann auf dieser Welt. Als die beiden schlafen, hält sie ihre Hände mit einer segnenden Geste über die Stirn von Tschick: „Lautlos geborgen und im Schutz meiner Hände und der schirmenden Nacht liegt er da.“

Herrndorf hat seinem absturzgefährdeten Engel keine kleinen symbolischen Lasten auf die schmalen Schultern geladen. Und doch stilisiert er Isa nicht zu einer kindfraulichen Prekariats-Ikone. Davor, ihre schamlose Unschuld mit verrotzter Emphase zum Inbild verklärter Weiblichkeit zu überhöhen, bewahrt ihn neben hochfeiner Komik vor allem seine Sprache. Er, der einen neuen Ton in die Gegenwartsliteratur gebracht hat, düpiert hier die bemühten Plagiatoren juveniler Rollenprosa im Schulhof-Sound, all jene, die sich das Seepferdchen-Abzeichen der Streetcredibility erschreiben wollen und doch nur durch Kitschpfützen waten. Herrndorfs Poesie ist von ganz anderer, ungekünstelter Art, pur und direkt, unendlich traurig und berückend schön. „Der Abgrund zerrt an mir“, sagt Isa einmal. „Aber ich bin stärker. Ich bin nicht verrückt...Ich bin dieselbe. Ich bin das Kind.“ Man merkt: Was dieser Autor seiner Isa souffliert, ist durch ihn hindurchgegangen oder, wie man früher gesagt hätte, „empfunden“.

„Bilder deiner großen Liebe“ gehört schon jetzt in die Reihe jener Werke der Literatur, die den Begriff des Fragments umgewertet haben. Wie Franz Kafkas unvollendete Romane oder Georg Büchners „Woyzeck“ haben sie aus dem, was vormals der Name eines Makels war, einer defizitären Form, ein eigenes literarisches Genre begründet.

In der letzten Szene spielt Isa mit einer Pistole, die sie bei einem toten Jäger im Wald gefunden hat. Sie schießt senkrecht in die Luft und sieht, wie die Kugel aufsteigt und dann wieder zu fallen beginnt, „millimetergenau zurück in den Lauf der Waffe“. Eines wusste sie schon immer, dass sie so sterben will: fallen. Am 26. August 2013 schoss sich Wolfgang Herrndorf am Berliner Hohenzollernkanal eine tödliche Kugel in den Kopf, um sein Leiden selbstbestimmt zu beenden. Seine kleine Schwester Isa hat er zurückgelassen, und die Geschichte dieser beiden, die nur zu Besuch auf der Erde waren, Wolfgang Herrndorfs Vermächtnis, sie trifft mitten ins Herz.

Wolfgang Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman. Rowohlt Berlin 2014. 144 Seiten, 16,95 Euro. E-Book 14,99 Euro

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