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Schlag ins Ungewisse

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Es ist ein Kampf gegen den „Islamischen Staat“ – und weit mehr als das. Amerika und fünf arabische Verbündete – Bahrain, Jordanien, Katar, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate – haben in der Nacht zu Dienstag Stellungen der IS-Dschihadisten in Syrien angegriffen. Vom Zerstörer USS Arleigh Burke und dem Raketenkreuzer Philippine Sea aus feuerten sie 47 Tomahawk-Marschflugkörper nach Syrien, dazu schickten sie Drohnen und Kampfbomber, so berichtet das amerikanische Oberkommando Centcom. Die Luftschläge sollen zahlreiche Einrichtungen des Islamischen Staates zerstört haben, darunter Trainingsanlagen, Kommandostellen, Lager, ein Finanzzentrum, Lastwagen und gepanzerte Autos.



Ein Kampfflugzeug des Typs Super Hornet landet nach dem Syrien-Einsatz auf einem Flugzeugträger im Persischen Golf

20 Luftschläge trafen den IS im nordsyrischen Rakka und den umliegenden Orten, darunter auch das Gebäude der lokalen Regierung in Rakka, wo die Extremisten ihr Hauptquartier eingerichtet hatten. Zudem bombardierten Amerika und seine Alliierten die Miliz in und um die Stadt Albu Kamel an der Grenze zu Irak. Gleichzeitig griffen sie auch die Kämpfer der al-Qaida-alliierten Nusra-Front an. Bei diesem Angriff sollen nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London 50 Menschen gestorben sein, darunter Zivilisten, auch Kinder. Die Nusra-Front ist ein IS-Rivale, nicht ganz so demonstrativ grausam, aber ideologisch ähnlich.

Gegenüber der Agentur Reuters kündigten die IS-Extremisten umgehend Rache an: „Diese Angriffe werden beantwortet“, sagte einer der Kämpfer per Skype aus Syrien. Die Nusra-Front kreierte ein Twitter-Thema: „Kreuzritter-Flugzeuge bombardieren die Nusra-Front.“ Zudem nutzte Washington die Gelegenheit, um „Khorasan“ ins Visier zu nehmen, eine Extremistengruppe, die sich offenbar erst im vergangenen Jahr gebildet hat. Sie sei der „Ausführung einer Attacke in Europa oder den USA“ nahe gewesen, sagte Generalleutnant William Mayville am Dienstag. Washington habe die Gruppe „einige Zeit“ beobachtet, bevor man sich zu den Luftschlägen gegen Khorasan entschieden habe. Anders als die anderen Einsätze, an denen etwa auch jordanische Flugzeuge beteiligt waren, flog Amerika diesen allein – ohne seine arabischen Partner.

Ohnehin gehen die meisten Beobachter davon aus, dass die arabische Beteiligung wichtig für die Legitimität des Angriffes ist, aber militärisch eher unbedeutend. Der Kampf gegen den IS hat eine Allianz geschaffen, die Gegner vereint; Saudi-Arabien und Katar, auch Amerika und Iran sind sich näher gekommen. Selbst der syrische Präsident Baschar al-Assad ließ über das Staatsfernsehen verkünden, Amerika habe Damaskus Stunden vor dem Angriff „informiert“. Das ist zwar noch keine volle Kooperation – aber ein Schritt in diese Richtung. Syrien, so hieß es, unterstütze alle „internationalen Anstrengungen“ im Kampf gegen den Terror. Assad und seine Getreuen behaupten seit drei Jahren, gegen Terroristen zu kämpfen – selbst 2011, als der Aufstand noch von Jugendlichen und Unbewaffneten geführt wurde.

Wichtigstes Ziel der derzeitigen Angriffe ist Rakka, die IS-Hauptstadt, jener Ort am Euphrat, in dem die Dschihadis sich einrichteten, alles kontrollierten von den Bäckereien bis zum Verkehr, wo sie herrschten und wuchsen, ehe sie über den Irak herfielen, die erbeuteten Waffen zurückschleppten und sich in Syrien ausbreiteten, in die Nachbarprovinz Deir al-Sor in der Nähe zum Irak und Richtung Türkei.

Aktivisten der Facebook-Seite „Rakka wird lautlos umgebracht“ (Raqqa is being slaughtered silently) schreiben, es habe in der Nacht 18 Luftschläge auf die Stadt gegeben, sieben davon auf größere Gebäude in der Innenstadt, einen Checkpoint im Westen, das Gebäude des Heimatschutzes in der Nähe des Nationalkrankenhauses, zudem habe es fünf Schläge gegen den Luftwaffenstützpunkt Al-Tabqa gegeben. Von hier hatten IS-Kämpfer vor einigen Wochen erst die Truppen von Baschar al-Assad vertrieben. „Bis jetzt wurden keine Zivilisten verletzt oder angegriffen“, hieß es in dem Post: „Wir hoffen, es bleibt so und beten für die Sicherheit unserer Menschen.“ Dennoch fliehen Einwohner. „Es gibt einen Exodus aus Rakka“, so zitieren Nachrichtenagenturen einen Syrer. „Er begann am frühen Morgen nach den Luftschlägen. Die Menschen fliehen aufs Land.“

Bei den Angriffen auf Rakka sollen 20Kämpfer getötet worden sein. Die Terrormiliz Islamischer Staat hat nach CIA-Angaben 30000 Kämpfer. Ohnehin ist unmöglich zu sagen, welchen militärischen Gewinn die Angriffe gebracht haben – und wer genau das Ziel ist. Der Islamische Staat nämlich bereitet sich in Rakka seit Wochen auf den Ernstfall vor. In den vergangenen Wochen hatten die Dschihadisten es ruhiger angehen lassen, hatten weniger Kämpfer auf die Straßen geschickt und – nach all den Brutalitäten und Einschüchterungen – eine Art Werbekampagne mit eingebauter Drohung begonnen: Bleibt bei uns, so ihre Botschaft an die Einwohner, oder fürchtet, was dann kommt.

Die Extremisten sind bekannt dafür, dass sie in Lücken stoßen, wo sie können, und sich zurückziehen, wo sie müssen. Nachdem US-Präsident Barack Obama am 11. September die Bombardierung des Islamischen Staates in Syrien in Aussicht gestellt hatte, reagierten sie umgehend: Gingen in den Untergrund, transportierten schwere Waffen ab oder ließen sie einfach liegen, zogen Kämpfer ab, reduzierten ihre Medienpräsenz. Der Islamische Staat in Rakka war offline. Ein Bewohner berichtete Agenturen: „Sie versuchen, immer unterwegs zu sein. Sie haben überall Schläferzellen und treffen sich nur noch selten zu Versammlungen.“ Die Kämpfer des Islamischen Staates sind hochmobil – fällt eine Stadt, rücken sie in die nächste ein.

Zudem ist die Frage, ob es wirklich eine so gute Idee ist, neben dem IS auch gleich die Nusra-Front anzugreifen, die zugegeben ähnlich abstoßend ist wie die andere IS-Dschihadisten-Truppe, aber in der Region nicht ganz so verhasst. Einige syrische Kämpfer gegen Assad kooperieren mit der Nusra-Front, viele schätzen sie als weniger gefährlich ein als den Islamischen Staat, weniger expansiv, schlechter ausgerüstet. Ohne die syrischen Assad-Gegner aber wird der Islamische Staat nicht zu besiegen sein. Und selbst mit ihnen wird es schwierig. Der syrische Anti-Assad-Aufstand ist fragmentiert in Hunderte Brigaden, einige sind ausgehungert, andere haben sich mit ihren Feinden – Nusra-Front oder Assad – arrangiert. Sie waren nie eine einheitliche, schlagkräftige Truppe, und sie werden es selbst mit umfassender westlicher Hilfe nicht so schnell werden. Jordanien trainiert zwar syrische Kämpfer, neuerdings auch Saudi-Arabien. Aber wenn es schlecht läuft, profitiert einzig Assad von der Schwächung der Dschihadisten – um noch härter gegen seine verbliebenen Gegner vorzugehen.

Es ist ein trügerischer Moment. Die kurzfristige Erleichterung über Amerikas neue Entschlossenheit und die Einigkeit der arabischen Nachbarn Syriens sollten nicht täuschen: Es gab Gründe, warum der Westen in dem Land militärisch bisher nicht aktiver geworden ist. Diese Gründe werden derzeit vom Schrecken über das Kalifat überschattet. Aber sie sind noch immer da.

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