Die Maschinen kommen in der Dunkelheit. An einem winterkalten Aprilabend schaffen drei Gestalten sie durch einen grauen Hinterhof, vorbei an Lüftungsrohren und kalkigen Wänden, hoch in den vierten Stock eines Altbaus in Berlin-Mitte. Anton hat sie in weiße Fleecedecken gewickelt, hat sie behutsam in Umzugskisten und einem schwarzen Rucksack verstaut. „Hier sind die Schätze“, sagt er, als er und zwei Freunde in die Wohnung wanken, in der er mit seiner Mutter und ihrem Freund lebt.
Vor ein paar Tagen sind die „Schätze“ auf der Geburtstagsparty einer Freundin zum Einsatz gekommen: zwei CD-Player, Mischpult, Verstärker, Boxen. Anton, 18 Jahre alt, blonde Haare, fein gezeichnetes Gesicht, hat dort aufgelegt. Zum ersten Mal vor Publikum. Drei Stunden hat er fünfzig Tanzende mit Techno beschallt, bis der Verstärker überhitzte. „Da hättest du mehrere Spiegeleier nacheinander drauf braten können.“ Hastig räumt er einen Stoß Schallplatten aus dem Weg und wischt eine Handvoll Kondome von einer weißen Tischplatte. Symmetrisch ordnet er die Geräte darauf an, verbindet sie mit Kabeln, schließt Strom an und drückt auf „ON“. Nichts passiert. „Nee, jetzt muss ich mir auch noch ’nen neuen Verstärker besorgen“, ruft er. „Fuck, ich würd voll gern auflegen heute!“
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Seit etwa einem halben Jahr kauft Anton gebrauchtes Equipment. In einem eintägigen Crashkurs hat er die Grundlagen der Musiksoftware Logic gelernt und sich auf der Suche nach neuen Tracks tagelang durch Musikplattformen wie Beatport oder Soundcloud gegraben. In seinem Zimmer übt er, die Tracks in Sets zu mischen. Noch ist er ganz am Anfang, aber in der Ferne lockt ein Traum: Anton möchte DJ werden. Irgendwann will er in den Club. Mitte der 2000er drängt Techno auf die Tanzflächen. Der Film „Berlin Calling“ und poppige Elektrohits machen die Subkultur, die in den 90ern ihr erstes Hoch erlebte, zum Massenphänomen. Berlin, Antons Geburtsort, wird so etwas wie die Welthauptstadt der elektronischen Musik. In irgendeinem Park oder unter irgendeiner Brücke findet immer ein Rave statt. Clubs schießen aus dem Boden und ziehen Tausende Feiernde an. Antons Generation wird damit erwachsen, Techno prägt die Teenager der Stadt wohl mehrals jedes andere Genre.
„Die Kultur existiert längst nicht mehr nur im Underground“, sagt der Soziologe Jan-Michael Kühn, der in der obersten Etage eines Ostberliner Plattenbaus eine Doktorarbeit über die Technoszene der Stadt schreibt. „Die wahnsinnige mediale Präsenz hat dazu geführt, das DJing für viele eine neue Form von Popstartum ist.“ Tanzen genügt ihnen irgendwann nicht mehr. Sie wollen die Musik nicht nur konsumieren – sie wollen sie spielen. Wer regelmäßig feiern geht, versteht sich als Teil der wachsenden Szene. „Aber nur wer vom Konsum in die Produktion übergeht, gelangt in ihren Kern“, erklärt Kühn. Man erlebe als aktiver Teil, also zum Beispiel als DJ, ein tieferes und befriedigenderes Zugehörigkeitsgefühl als Leute, die einfach nur ausgehen.
Die Großen der Szene fliegen jedes Wochenende um die Welt. Manche DJs füllen ganze Fußballstadien und kassieren üppige Gagen. Der Niederländer Tijs Verwest verdient im Schnitt sogar bis zu 250 000 Euro pro Auftritt. 2013 häufte er zehn Millionen mehr an als Cristiano Ronaldo bei Real Madrid. Haben junge Menschen früher davon geträumt, Drummer, Gitarrist oder Sänger in einer erfolgreichen Band zu werden, sind jetzt häufig DJs die Protagonisten im Rockstar-Traum. „Man muss sich nur mal das Tanzvolk in größeren Clubs ansehen“, sagt Olaf Möller von Music Pool Berlin, einem Projekt, das jungen DJs und Musikern hilft, im Kulturbetrieb Fuß zu fassen. „Die starren gebannt nach vorn wie bei einem Konzert und himmeln den DJ an.“ Und welcher Teenager will das nicht: angehimmelt werden?
Anton wirkt zumindest nicht wie einer, der Fans will. Eher zurückhaltend und reflektiert. Dass er um jeden Preis ein Star-DJ werden will, geht ihm keinmal über die Lippen. „Ich glaube, dass es mir Spaß machen würde, in Clubs aufzulegen“, sagt er. Und immer wieder: „Das Drumrum ist mir egal. Mir geht es um die Musik.“ Vielleicht ist er so zurückhaltend, weil er verstanden hat, worauf es in der Szene ankommt und was verpönt ist. „Wenn einer Charthits in Clubmusik übersetzt wie David Guetta und nur auflegen will, um Fame zu haben und Geld zu verdienen, wird das als Ausverkauf wahrgenommen“, sagt Soziologe Kühn. Man müsse das „subkulturelle Ideal“ des Berliner Techno achten, um in der Szene anzukommen: Zurückhaltung statt großer Sprüche, Spaß am Auflegen. Und echte Liebe zur Musik.
[seitenumbruch]
In Antons Leben hat Musik immer eine Rolle gespielt. Er hat im Chor gesungen, Klavier und Gitarre gespielt. Bis zur siebten Klasse besucht er ein Musikgymnasium. Mit 15 fängt er an, in Technoclubs zu gehen. Zuerst ist er überwältigt: von der Lautstärke, den Lichteffekten, den zugedröhnten Nachtgestalten. Irgendwann hört er genauer auf die Sets der DJs und merkt, dass ihm manche Tracks besonders gefallen – und andere überhaupt nicht. Manchmal ist er verärgert, wenn er morgens nach Hause kommt. Es wäre doch gut, wenn überall, wo er ist, gute Musik laufen würde, denkt er. Wenn er seine Lieblingsstücke mit den Feiernden teilen könnte.
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Vielleicht war es nie einfacher, DJ zu werden. Niemand braucht heute noch einen großen Maschinenpark aus Synthesizern, teuren Plattenspielen und 500 Alben. Ein Laptop, MP3s aus dem Internet und eine Software zum Mischen tun es für den Anfang. Vielleicht war es aber auch nie schwerer, DJ zu werden. „Weil heute jeder auflegt“, sagt Olaf Möller von der Künstlerberatung Music Pool Berlin. Allein in der Hauptstadt gebe es schätzungsweise 6000 DJs, die regelmäßig als Residents in den geschätzten 200 bis 300 Technoclubs der Stadt spielen. Und mindestens noch einmal so viele, die darum ringen, dorthin zu kommen. Nur ein geringer Prozentsatz dieser Masse schafft es an die Spitze. Andere kommen nie über das Einsteigerlevel hinaus. „Und das“, sagt Möller, „ist leider die größte Gruppe.“ 95 Prozent der DJs hielten sich gerade so über Wasser. Es reiche schon seit zwanzig Jahren nicht mehr, musikalisch zu sein und die Technik zu beherrschen.
Wer es in den Club schaffen wolle, müsse Vorarbeit leisten, wie ein Unternehmer für sich werben: Sets auf Facebook, Soundcloud oder der eigenen Internetseite hochladen; ein Geschäftsmodell schreiben, das haarklein skizziert, welche Musik man in welchen Clubs spielen und wie man sich finanzieren will. Vor allem aber brauche man Kontakte, sagt Möller: „Du musst so viele Leute wie möglich anquatschen und von dir überzeugen: Clubbesitzer, Partyveranstalter, etablierte DJs.“
Das Aprilwetter ist warmer Maisonne gewichen. In einer dünnen Cordjacke läuft Anton, die Kopfhörer um den Hals, durch Friedrichshain. Er wirkt unzufrieden. Vielleicht liegt das daran, dass er sich ein paar Tage zuvor wieder für die Schule angemeldet hat. Er möchte den Realschulabschluss nachholen, später vielleicht das Abitur machen. Ein Jahr hat er pausiert, seit er in der zehnten Klasse den Anschluss verloren hat. „Ich habe mir vorgestellt, dass ich mich in dieser Zeit selbst entdecke, mich ein bisschen der Kunst widme“, sagt Anton. Dann schweigt er. Ein paar Minuten später biegt er in einen Sandweg, an dessen Ende ein ehemaliges Heizkraftwerk freundlich in der Sonne leuchtet: das „Berghain“. Es ist still im Club. Nur ein paar Mitarbeiter tragen Kabeltrommeln und Getränkekisten durch leere Gänge. Im Treppenhaus unterhalten sich drei Techniker unter der überlebensgroßen Fotografie einer Vagina.
Anton ist heute nicht zum Feiern gekommen. Er will Ben Klock und Marcel Dettmann treffen, die als Resident DJs regelmäßig im „Berghain“ auflegen. Ihr Sound beeindruckt ihn besonders. „Ich mag dieses Dolle und Treibende, nicht so verspielt und ohne Gesang“, sagt Anton. Heute will er sie fragen, wie sie es geschafft haben, DJs zu werden. „Am Anfang war das echt hart“, sagt Dettmann, der sich an einem Besprechungstisch im dritten Stockwerk des Clubs neben Ben Klock niedergelassen hat. Ein berlinernder Hüne mit langem, dunkelblondem Haar, kantigem Gesicht und freundlichen Augen. Er wolle nicht wissen, wie viele „Scheißgigs“ er gespielt hat: schlechte Anlage, unfreundliche Veranstalter, miese Gagen. „Und das kann Jahre dauern, bis du da überhaupt einmal hinkommst.“
Dettmann ist in Brandenburg aufgewachsen, eine halbe Stunde vor Berlin. Nach der Wende fängt er an, elektronische Musik zu hören. In seinem Freundeskreis kursieren Mixtapes mit den neuesten Tracks. „Da wollt ich natürlich mitmischen.“ Das Geld, das ihm Verwandte zur Jugendweihe schenken, investiert Dettmann in Platten und Technics 1210er, die Könige unter den DJ-Plattenspielern. Er organisiert Partys, nur um selbst auflegen zu können. Bricht zwei Ausbildungen ab, um in Plattenläden wie dem „Hard Wax“ in Kreuzberg zu jobben. „Ich wusst ja, wohin es für mich gehen soll“, sagt er. „Alles andere hätte mich nicht glücklich gemacht.“
Auch Ben Klock arbeitet unter der Woche jahrelang als Grafikdesigner, bevor er entscheidet, sich allein als DJ durchzuschlagen. Wie Anton hat er schon als Kind Musik gemacht und als Gitarrist in einer Band gespielt. Über Jahre hangeln sich Klock und Dettmann von Auftritt zu Auftritt, bis sie irgendwann Resident DJs im „Ostgut“ werden, dem Vorgänger des „Berghain“. Mit dem Club werden sie weltweit bekannt. Meistens touren sie von Donnerstag bis Dienstag durch Asien, Australien, Europa, Lateinamerika, die USA.
In der restlichen Zeit produzieren sie Musik. Wenn Marcel Dettmann davon schwärmt, wie sehr er es genießt, seine Tochter in den Kindergarten zu bringen oder den „Tatort“ in der Mediathek zu gucken, wird klar, dass der DJ-Beruf keine einzige Party ist. Sondern auch ein Knochenjob. „Und du willst auch DJ werden?“, fragt Ben Klock Anton. „Deshalb auch die Kopfhörer“, sagt Dettmann, „die hab ich auch, genau richtig für meinen Riesenschädel.“ Anton erzählt, wie er im Club in der ersten Reihe tanzt, um besser zu sehen, welche Knöpfe die DJs drehen und welches Equipment sie benutzen. Dass er sich gern richtige Plattenspieler kaufen würde, auch wenn das finanziell natürlich schwierig sei. „Ich überlege immer noch, was ich dir jetzt für ’nen Rat geben kann“, sagt Klock. „Is schwierig, gibt ja keine Schule, wo du das einfach lernen kannst“, fügt Dettmann an.
Dann legen sie los. Klock: „Als DJ musst du die Magie im Club kreieren, die Leute mit deinem Set führen.“ Dettmann: „Und du musst Spaß dabei haben. Wenn ich nur halb so viel Spaß beim Auflegen hätt, könnt ich das gar nich machen.“ Klock: „Ich glaube auch, dass eine Residency total wichtig ist, um das Handwerk zu lernen. Regelmäßig in einem Laden auflegen, egal, wie klein der ist.“ Dettmann: „Promos verschicken an DJs und Veranstalter, auch wichtig, wenn du später selber produzierst. Aber schick denen nicht zwanzig Tracks, schick denen deine drei besten, von denen du denkst: Da drehen die durch, wenn se die hören.“ Klock: „Und überleg dir genau, ob du dir überhaupt vorstellen kannst, ständig durch die Welt zu reisen und allein in Hotels zu sitzen. Das hält nicht jeder aus.“
Als Anton später auf einer Eisentreppe vorm Lieferanteneingang des Clubs sitzt, wirkt er nachdenklich, vielleicht auch ein bisschen überfordert. Bei ihm sei das ja alles noch sehr weit weg. Er habe nicht gedacht, dass „Berghain“-Residents ganz normale, nette Menschen sind, sagt er dann. Der Gedanke scheint ihn aber auch zu erleichtern. Wenn so normale Typen das schaffen und dafür Jahre kämpfen – schafft er es vielleicht auch? Zwei Monate später, Anton ist gerade 19 geworden. Als er morgens aufwacht, stehen auf dem Küchentisch ein Käsekuchen, ein Blumenstrauß – und ein silberner Technics-Plattenspieler mit einer blauen Schleife darum. Fürs kommende Wochenende hat Anton Freunde eingeladen, mit ihm in einem Park an der Spree zu feiern. Er will einen Rave organisieren. Der DJ: Anton.Durch brütende Julihitze drücken sich Bässe über die Spree. Am Uferweg klebt ein Mädchen in Hotpants ein neongelbes „A“ an einen Laternenpfahl. Und einen Pfeil, der auf eine kleine Wiese zeigt. Im Schatten einiger Walnussbäume stehen 2,50 Meter hohe Boxentürme.
Anton tritt unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er ist jetzt kurz davor, endlich wieder aufzulegen. Um fünf vor acht dröhnt Minimal-Techno aus den Boxen. Antons Freunde tanzen barfuß im Gras. Einer hat sich ein T-Shirt um den Kopf gebunden, andere schweben mit MDMA-Lächeln auf den Lippen durch die Menge. Den Kopfhörer am Ohr, steht Anton hinter den Playern. Konzentriert dreht er an den Knöpfen seines Mischpults, schaut immer wieder auf zwei linierte DIN-A4-Blätter, seine Playlist. Passgenau bewegt er sich zur Musik, ungerührte Miene. Ab und an fischt er eine neue CD aus einem roten Etui mit Reißverschluss.
Bei den Übergängen unterläuft ihm kein Patzer. Eigentlich will Anton drei Stunden auflegen. Es werden fast sieben. „Das war der anstrengendste Tag meines Lebens“, wird er eine Woche später sagen. Er sagt es zufrieden und auch ein bisschen stolz. Als Nächstes will er endlich ein oder zwei Sets aufnehmen. Und wenn er eines hat, mit dem er zufrieden ist, möchte er es irgendwann der Mutter eines Freundes schicken. Die ist Chefin des „Tresor“ und organisiert dort auch Veranstaltungen, auf denen Nachwuchs-DJs auflegen. Anfang der 90er hat die Berliner Elektroszene in dem Club ihre Geburt erlebt. Anton war damals noch nicht auf der Welt. „Tresor“, das war für ihn bisher eine Legende aus der Vergangenheit. Jetzt klingt der Name wie ein Versprechen.
Vor ein paar Tagen sind die „Schätze“ auf der Geburtstagsparty einer Freundin zum Einsatz gekommen: zwei CD-Player, Mischpult, Verstärker, Boxen. Anton, 18 Jahre alt, blonde Haare, fein gezeichnetes Gesicht, hat dort aufgelegt. Zum ersten Mal vor Publikum. Drei Stunden hat er fünfzig Tanzende mit Techno beschallt, bis der Verstärker überhitzte. „Da hättest du mehrere Spiegeleier nacheinander drauf braten können.“ Hastig räumt er einen Stoß Schallplatten aus dem Weg und wischt eine Handvoll Kondome von einer weißen Tischplatte. Symmetrisch ordnet er die Geräte darauf an, verbindet sie mit Kabeln, schließt Strom an und drückt auf „ON“. Nichts passiert. „Nee, jetzt muss ich mir auch noch ’nen neuen Verstärker besorgen“, ruft er. „Fuck, ich würd voll gern auflegen heute!“
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Seit etwa einem halben Jahr kauft Anton gebrauchtes Equipment. In einem eintägigen Crashkurs hat er die Grundlagen der Musiksoftware Logic gelernt und sich auf der Suche nach neuen Tracks tagelang durch Musikplattformen wie Beatport oder Soundcloud gegraben. In seinem Zimmer übt er, die Tracks in Sets zu mischen. Noch ist er ganz am Anfang, aber in der Ferne lockt ein Traum: Anton möchte DJ werden. Irgendwann will er in den Club. Mitte der 2000er drängt Techno auf die Tanzflächen. Der Film „Berlin Calling“ und poppige Elektrohits machen die Subkultur, die in den 90ern ihr erstes Hoch erlebte, zum Massenphänomen. Berlin, Antons Geburtsort, wird so etwas wie die Welthauptstadt der elektronischen Musik. In irgendeinem Park oder unter irgendeiner Brücke findet immer ein Rave statt. Clubs schießen aus dem Boden und ziehen Tausende Feiernde an. Antons Generation wird damit erwachsen, Techno prägt die Teenager der Stadt wohl mehrals jedes andere Genre.
„Die Kultur existiert längst nicht mehr nur im Underground“, sagt der Soziologe Jan-Michael Kühn, der in der obersten Etage eines Ostberliner Plattenbaus eine Doktorarbeit über die Technoszene der Stadt schreibt. „Die wahnsinnige mediale Präsenz hat dazu geführt, das DJing für viele eine neue Form von Popstartum ist.“ Tanzen genügt ihnen irgendwann nicht mehr. Sie wollen die Musik nicht nur konsumieren – sie wollen sie spielen. Wer regelmäßig feiern geht, versteht sich als Teil der wachsenden Szene. „Aber nur wer vom Konsum in die Produktion übergeht, gelangt in ihren Kern“, erklärt Kühn. Man erlebe als aktiver Teil, also zum Beispiel als DJ, ein tieferes und befriedigenderes Zugehörigkeitsgefühl als Leute, die einfach nur ausgehen.
Die Großen der Szene fliegen jedes Wochenende um die Welt. Manche DJs füllen ganze Fußballstadien und kassieren üppige Gagen. Der Niederländer Tijs Verwest verdient im Schnitt sogar bis zu 250 000 Euro pro Auftritt. 2013 häufte er zehn Millionen mehr an als Cristiano Ronaldo bei Real Madrid. Haben junge Menschen früher davon geträumt, Drummer, Gitarrist oder Sänger in einer erfolgreichen Band zu werden, sind jetzt häufig DJs die Protagonisten im Rockstar-Traum. „Man muss sich nur mal das Tanzvolk in größeren Clubs ansehen“, sagt Olaf Möller von Music Pool Berlin, einem Projekt, das jungen DJs und Musikern hilft, im Kulturbetrieb Fuß zu fassen. „Die starren gebannt nach vorn wie bei einem Konzert und himmeln den DJ an.“ Und welcher Teenager will das nicht: angehimmelt werden?
Anton wirkt zumindest nicht wie einer, der Fans will. Eher zurückhaltend und reflektiert. Dass er um jeden Preis ein Star-DJ werden will, geht ihm keinmal über die Lippen. „Ich glaube, dass es mir Spaß machen würde, in Clubs aufzulegen“, sagt er. Und immer wieder: „Das Drumrum ist mir egal. Mir geht es um die Musik.“ Vielleicht ist er so zurückhaltend, weil er verstanden hat, worauf es in der Szene ankommt und was verpönt ist. „Wenn einer Charthits in Clubmusik übersetzt wie David Guetta und nur auflegen will, um Fame zu haben und Geld zu verdienen, wird das als Ausverkauf wahrgenommen“, sagt Soziologe Kühn. Man müsse das „subkulturelle Ideal“ des Berliner Techno achten, um in der Szene anzukommen: Zurückhaltung statt großer Sprüche, Spaß am Auflegen. Und echte Liebe zur Musik.
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In Antons Leben hat Musik immer eine Rolle gespielt. Er hat im Chor gesungen, Klavier und Gitarre gespielt. Bis zur siebten Klasse besucht er ein Musikgymnasium. Mit 15 fängt er an, in Technoclubs zu gehen. Zuerst ist er überwältigt: von der Lautstärke, den Lichteffekten, den zugedröhnten Nachtgestalten. Irgendwann hört er genauer auf die Sets der DJs und merkt, dass ihm manche Tracks besonders gefallen – und andere überhaupt nicht. Manchmal ist er verärgert, wenn er morgens nach Hause kommt. Es wäre doch gut, wenn überall, wo er ist, gute Musik laufen würde, denkt er. Wenn er seine Lieblingsstücke mit den Feiernden teilen könnte.
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Vielleicht war es nie einfacher, DJ zu werden. Niemand braucht heute noch einen großen Maschinenpark aus Synthesizern, teuren Plattenspielen und 500 Alben. Ein Laptop, MP3s aus dem Internet und eine Software zum Mischen tun es für den Anfang. Vielleicht war es aber auch nie schwerer, DJ zu werden. „Weil heute jeder auflegt“, sagt Olaf Möller von der Künstlerberatung Music Pool Berlin. Allein in der Hauptstadt gebe es schätzungsweise 6000 DJs, die regelmäßig als Residents in den geschätzten 200 bis 300 Technoclubs der Stadt spielen. Und mindestens noch einmal so viele, die darum ringen, dorthin zu kommen. Nur ein geringer Prozentsatz dieser Masse schafft es an die Spitze. Andere kommen nie über das Einsteigerlevel hinaus. „Und das“, sagt Möller, „ist leider die größte Gruppe.“ 95 Prozent der DJs hielten sich gerade so über Wasser. Es reiche schon seit zwanzig Jahren nicht mehr, musikalisch zu sein und die Technik zu beherrschen.
Wer es in den Club schaffen wolle, müsse Vorarbeit leisten, wie ein Unternehmer für sich werben: Sets auf Facebook, Soundcloud oder der eigenen Internetseite hochladen; ein Geschäftsmodell schreiben, das haarklein skizziert, welche Musik man in welchen Clubs spielen und wie man sich finanzieren will. Vor allem aber brauche man Kontakte, sagt Möller: „Du musst so viele Leute wie möglich anquatschen und von dir überzeugen: Clubbesitzer, Partyveranstalter, etablierte DJs.“
Das Aprilwetter ist warmer Maisonne gewichen. In einer dünnen Cordjacke läuft Anton, die Kopfhörer um den Hals, durch Friedrichshain. Er wirkt unzufrieden. Vielleicht liegt das daran, dass er sich ein paar Tage zuvor wieder für die Schule angemeldet hat. Er möchte den Realschulabschluss nachholen, später vielleicht das Abitur machen. Ein Jahr hat er pausiert, seit er in der zehnten Klasse den Anschluss verloren hat. „Ich habe mir vorgestellt, dass ich mich in dieser Zeit selbst entdecke, mich ein bisschen der Kunst widme“, sagt Anton. Dann schweigt er. Ein paar Minuten später biegt er in einen Sandweg, an dessen Ende ein ehemaliges Heizkraftwerk freundlich in der Sonne leuchtet: das „Berghain“. Es ist still im Club. Nur ein paar Mitarbeiter tragen Kabeltrommeln und Getränkekisten durch leere Gänge. Im Treppenhaus unterhalten sich drei Techniker unter der überlebensgroßen Fotografie einer Vagina.
Anton ist heute nicht zum Feiern gekommen. Er will Ben Klock und Marcel Dettmann treffen, die als Resident DJs regelmäßig im „Berghain“ auflegen. Ihr Sound beeindruckt ihn besonders. „Ich mag dieses Dolle und Treibende, nicht so verspielt und ohne Gesang“, sagt Anton. Heute will er sie fragen, wie sie es geschafft haben, DJs zu werden. „Am Anfang war das echt hart“, sagt Dettmann, der sich an einem Besprechungstisch im dritten Stockwerk des Clubs neben Ben Klock niedergelassen hat. Ein berlinernder Hüne mit langem, dunkelblondem Haar, kantigem Gesicht und freundlichen Augen. Er wolle nicht wissen, wie viele „Scheißgigs“ er gespielt hat: schlechte Anlage, unfreundliche Veranstalter, miese Gagen. „Und das kann Jahre dauern, bis du da überhaupt einmal hinkommst.“
Dettmann ist in Brandenburg aufgewachsen, eine halbe Stunde vor Berlin. Nach der Wende fängt er an, elektronische Musik zu hören. In seinem Freundeskreis kursieren Mixtapes mit den neuesten Tracks. „Da wollt ich natürlich mitmischen.“ Das Geld, das ihm Verwandte zur Jugendweihe schenken, investiert Dettmann in Platten und Technics 1210er, die Könige unter den DJ-Plattenspielern. Er organisiert Partys, nur um selbst auflegen zu können. Bricht zwei Ausbildungen ab, um in Plattenläden wie dem „Hard Wax“ in Kreuzberg zu jobben. „Ich wusst ja, wohin es für mich gehen soll“, sagt er. „Alles andere hätte mich nicht glücklich gemacht.“
Auch Ben Klock arbeitet unter der Woche jahrelang als Grafikdesigner, bevor er entscheidet, sich allein als DJ durchzuschlagen. Wie Anton hat er schon als Kind Musik gemacht und als Gitarrist in einer Band gespielt. Über Jahre hangeln sich Klock und Dettmann von Auftritt zu Auftritt, bis sie irgendwann Resident DJs im „Ostgut“ werden, dem Vorgänger des „Berghain“. Mit dem Club werden sie weltweit bekannt. Meistens touren sie von Donnerstag bis Dienstag durch Asien, Australien, Europa, Lateinamerika, die USA.
In der restlichen Zeit produzieren sie Musik. Wenn Marcel Dettmann davon schwärmt, wie sehr er es genießt, seine Tochter in den Kindergarten zu bringen oder den „Tatort“ in der Mediathek zu gucken, wird klar, dass der DJ-Beruf keine einzige Party ist. Sondern auch ein Knochenjob. „Und du willst auch DJ werden?“, fragt Ben Klock Anton. „Deshalb auch die Kopfhörer“, sagt Dettmann, „die hab ich auch, genau richtig für meinen Riesenschädel.“ Anton erzählt, wie er im Club in der ersten Reihe tanzt, um besser zu sehen, welche Knöpfe die DJs drehen und welches Equipment sie benutzen. Dass er sich gern richtige Plattenspieler kaufen würde, auch wenn das finanziell natürlich schwierig sei. „Ich überlege immer noch, was ich dir jetzt für ’nen Rat geben kann“, sagt Klock. „Is schwierig, gibt ja keine Schule, wo du das einfach lernen kannst“, fügt Dettmann an.
Dann legen sie los. Klock: „Als DJ musst du die Magie im Club kreieren, die Leute mit deinem Set führen.“ Dettmann: „Und du musst Spaß dabei haben. Wenn ich nur halb so viel Spaß beim Auflegen hätt, könnt ich das gar nich machen.“ Klock: „Ich glaube auch, dass eine Residency total wichtig ist, um das Handwerk zu lernen. Regelmäßig in einem Laden auflegen, egal, wie klein der ist.“ Dettmann: „Promos verschicken an DJs und Veranstalter, auch wichtig, wenn du später selber produzierst. Aber schick denen nicht zwanzig Tracks, schick denen deine drei besten, von denen du denkst: Da drehen die durch, wenn se die hören.“ Klock: „Und überleg dir genau, ob du dir überhaupt vorstellen kannst, ständig durch die Welt zu reisen und allein in Hotels zu sitzen. Das hält nicht jeder aus.“
Als Anton später auf einer Eisentreppe vorm Lieferanteneingang des Clubs sitzt, wirkt er nachdenklich, vielleicht auch ein bisschen überfordert. Bei ihm sei das ja alles noch sehr weit weg. Er habe nicht gedacht, dass „Berghain“-Residents ganz normale, nette Menschen sind, sagt er dann. Der Gedanke scheint ihn aber auch zu erleichtern. Wenn so normale Typen das schaffen und dafür Jahre kämpfen – schafft er es vielleicht auch? Zwei Monate später, Anton ist gerade 19 geworden. Als er morgens aufwacht, stehen auf dem Küchentisch ein Käsekuchen, ein Blumenstrauß – und ein silberner Technics-Plattenspieler mit einer blauen Schleife darum. Fürs kommende Wochenende hat Anton Freunde eingeladen, mit ihm in einem Park an der Spree zu feiern. Er will einen Rave organisieren. Der DJ: Anton.Durch brütende Julihitze drücken sich Bässe über die Spree. Am Uferweg klebt ein Mädchen in Hotpants ein neongelbes „A“ an einen Laternenpfahl. Und einen Pfeil, der auf eine kleine Wiese zeigt. Im Schatten einiger Walnussbäume stehen 2,50 Meter hohe Boxentürme.
Anton tritt unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er ist jetzt kurz davor, endlich wieder aufzulegen. Um fünf vor acht dröhnt Minimal-Techno aus den Boxen. Antons Freunde tanzen barfuß im Gras. Einer hat sich ein T-Shirt um den Kopf gebunden, andere schweben mit MDMA-Lächeln auf den Lippen durch die Menge. Den Kopfhörer am Ohr, steht Anton hinter den Playern. Konzentriert dreht er an den Knöpfen seines Mischpults, schaut immer wieder auf zwei linierte DIN-A4-Blätter, seine Playlist. Passgenau bewegt er sich zur Musik, ungerührte Miene. Ab und an fischt er eine neue CD aus einem roten Etui mit Reißverschluss.
Bei den Übergängen unterläuft ihm kein Patzer. Eigentlich will Anton drei Stunden auflegen. Es werden fast sieben. „Das war der anstrengendste Tag meines Lebens“, wird er eine Woche später sagen. Er sagt es zufrieden und auch ein bisschen stolz. Als Nächstes will er endlich ein oder zwei Sets aufnehmen. Und wenn er eines hat, mit dem er zufrieden ist, möchte er es irgendwann der Mutter eines Freundes schicken. Die ist Chefin des „Tresor“ und organisiert dort auch Veranstaltungen, auf denen Nachwuchs-DJs auflegen. Anfang der 90er hat die Berliner Elektroszene in dem Club ihre Geburt erlebt. Anton war damals noch nicht auf der Welt. „Tresor“, das war für ihn bisher eine Legende aus der Vergangenheit. Jetzt klingt der Name wie ein Versprechen.