Renate beißt in ihr Brot, während sie uns mustert: „Ihr seid noch ziemlich jung,“ meint sie dann. Sie ist 79 und lebt in einer Senioren-WG. Ihre Zähne funktionieren gut, ihr Gedächtnis nicht. Renate ist dement. Wir sitzen an einem Esstisch in Hecklingen-Schneidlingen, Sachsen-Anhalt. Auf dem Weg hierher sind wir an verfallenen Häusern vorbeigefahren. Renate soll unsere neue Mitbewohnerin werden. Wir wollen für eine Nacht in die betreute WG einziehen, in der sie wohnt. „Könnt ihr gern machen,“ sagt sie. „Ich komme mit allen Leuten klar. Sogar mit Alten.“
Leserin Regina hat uns damit beauftragt, hierherzukommen. Sie findet, dass zu wenig darüber geschrieben wird, wie es Omas und Opas in Deutschland eigentlich geht. Obwohl uns das ja sehr wohl was angeht. Denn es gibt immer mehr alte Menschen. Und immer weniger junge, die sich um sie kümmern. Wie geht es den Senioren? Ist so eine WG eine Alternative zu Pflegeheimen? Und was erzählen die Betreuer uns in der Nacht, wenn die Bewohner im Bett sind?
Renate nimmt uns mit zu ihrem Mitbewohner Fritz, 85. Beide sind verwitwet. Fritz ist nicht so mobil wie Renate, dafür aber auch nicht ganz so vergesslich. Er hat einen Rollator und fährt mit dem Lift zum Mittagessen nach oben. Jetzt sitzt er gerade vor dem Fernseher und guckt eine Telenovela. Neben Kaninchen züchten seine Lieblingsbeschäftigung. Renate gibt Fritz die Hand. „Hey, Opa“, sagt er zu ihr. Er nennt sie öfter Opa. An guten Tagen erinnern sich die beiden daran, dass sie Mitbewohner sind. An anderen müssen sie sich einander erst noch mal vorstellen. Die dritte Mitbewohnerin ist gerade im Krankenhaus. Und dann gibt es da noch die sogenannte Urlaubs-Oma, die ab und an hier zur Zwischenmiete wohnt. Fritz muss erst mal sein Hörgerät anziehen, damit wir mit ihm reden können.
Die WG-Bewohner sind hier nicht sich selbst überlassen. Aber sie leben selbstständig. Das heißt: Sie können alles machen, was sie wollen. Aber bei allem, wofür sie Hilfe brauchen, kriegen sie Hilfe. „Nö, wir putzen nicht selbst. Keine Lust, da lassen wir jemanden kommen“, sagt Fritz. Wir sind etwas neidisch. Ähnlich wie in einer normalen WG hat hier aber jeder einen eigenen Haustürschlüssel und bringt seine Möbel und Haustiere mit. Samstags treffen sie sich zum Grillen. WG-Party. „Ich mags hier“, sagt Fritz.
Ausgedacht hat sich das Corinna Hoppe, 42. Sie leitete früher eine Demenzstation in einem Pflegeheim. Die Arbeitsbedingungen in normalen Pflegeheimen mag sie nicht. Zu wenig Zeit, zu wenige Mitarbeiter. „Pflegeriesen“ nennt Corinna die Riesenheime, in denen sieben Angestellte zwei Stunden Zeit dafür haben, 53 Bewohner zu waschen. Deshalb gründete sie die WG, erklärt sie uns in der Wohnküche. „Das hier ist nicht mein Beruf, sondern mein Hobby, meine Leidenschaft, mein Leben.“ Ein Wagnis. Anders als zum Beispiel in Berlin können hier in Hecklingen viele Leute mit Senioren-WGs erst mal gar nichts anfangen. Mehrere WG-Zimmer stehen leer. Noch. Seit April existiert die WG, Corinna hat dafür das ganze Haus umgebaut, das früher ähnlich aussah, wie die Ruinen, die wir auf der Hinfahrt gesehen haben. Viele Leute ziehen von hier weg. Weil es woanders mehr Arbeitsplätze gibt. In Sachsen-Anhalt stehen zehn Prozent aller Wohnungen leer. Hier aber ist jetzt neues, altes Leben drin. Das Haus ist nun gelb gestrichen, Geranien stehen auf dem Fensterbrett, draußen laufen Enten herum und es gibt einen Platz mit Sand, auf dem im Sommer ein Pool aufgebaut wird. Hat sich Fritz gewünscht. Er ist der Vorsitzende im sogenannten Mieterbeirat. Hier herrscht Demokratie, erklärt Corinna. „Wenn die sagen, schaff nen Esel an, dann schaff ich nen Esel an.“
Corinna Hoppe
Gegen 21 Uhr geht erst Fritz ins Bett, dann Renate. Betreuerin Judith hilft ihr in den Schlafanzug. Wir setzen uns mit ihr und Corinna in die Küche. Tagsüber ist Corinna eine Power-Person mit scheinbar endloser Energie, die sich durch die behäbige deutsche Pflegebranche boxt. Abends, wenn die Bewohner im Bett sind, wird sie nachdenklich. „Deutschland hat die Dementen vergessen“ sagt sie uns. Wenn ein alter Mensch vergesslich wird, finden die Angehörigen ihn oft störend. Die vielen Fragen nerven. Bei Geburtstagsfeiern lässt man Opa lieber daheim. „Genau das Falsche“, findet Corinna. „Man muss sich mit den Leuten beschäftigen.“ In der Alten-WG gibt es vor allem Zeit. Zeit, um Fritz zuzuhören, der Geschichten vom Krieg erzählt. Zeit, um darauf zu warten, dass Renate Äpfel fertig geschält hat. Oder darauf, dass sie einschläft. Denn Renate ist ähnlich wie ein kleiner Hausgeist die halbe Nacht unterwegs. Um 23 Uhr steckt sie den Kopf in die Tür zum Gemeinschaftsraum: „Na, wolltet ihr noch was von mir?“ „Nein nein, geh ruhig schlafen Oma,“ sagt Judith, „alles gut.“
Wir sitzen die halbe Nacht mit Corinna und Judith in der Küche und versuchen immer wieder, schlafen zu gehen. Aber die beiden haben soviel zu erzählen, dass wir erst lange nach Mitternacht ins Bett gehen. Leute, die sich den ganzen Tag die Geschichten alter Menschen anhören, freuen sich darüber, wenn sie auch mal jemanden zum reden haben. Nach dem dritten nächtlichen Kaffee kapitulieren wir und tragen unsere Rucksäcke hoch ins Dachgeschoss. Dort werden wir übernachten.
Jeder Bewohner hat einen Piepser, falls es nachts Probleme gibt. „Ihr könnt auch einen haben“, bietet uns Corinna an. Wir verzichten, wird schon alles gut gehen. Wir sehen uns um. Hier oben schlafen normalerweise keine Bewohner, nur die Betreuer, die sich schichtweise abwechseln, ruhen sich hier manchmal aus. Deshalb steht in unserem Zimmer auch nur ein Bett, auf Haustiere und Möbel verzichten wir. Das Zimmer hell und groß. Die Miete hier kostet etwa 900 Euro im Monat, je nach Pflegestufe viel weniger als in einem großen Altersheim.
Als wir im Bett liegen, zugedeckt mit unseren mitgebrachten Schlafsäcken, reden wir noch lange darüber, dass wir später auch in eine Alten-WG ziehen wollen. Dann auch am besten mit Putz-Personal und WG-Partys mit den Enkeln. In jedem Fall besser als alleine in einem riesigen Haus abzuhängen und auf die nächste Krankheit zu warten. Wir hören Renate noch mal durch den Flur tapsen, dann schlafen wir so gegen 2 Uhr ein.
Um 7 Uhr gibt es Frühstück. Am Tisch sitzt nur Renate. Fritz führt ein morgendliches Eigenbrötler-Leben. Er frühstückt lieber in seinem Zimmer vor dem Fernseher. Und zwar eine Stunde später. Auch das ist ok. Renate betrachtet die Marmeladenbrote auf ihrem Teller. „Ich weiß wirklich nicht, ob ich das alles essen soll. Ich bin viel zu dick geworden," behauptet sie.