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Ein Leben auf Probezeit

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Die Zeit für Sören Philipps läuft ab. „Ich darf noch drei Monate und neun Tage an der Uni arbeiten, dann ist Schluss“, sagt er. Philipps sitzt noch einmal in seinem Büro, Universität Hannover, Historisches Seminar, erster Stock. Sie haben den großen Raum samt dem Stuck an der Decke mit einer Wand geteilt, rechts sitzt die Kollegin Professorin, links zwängt sich zwischen zwei Bücherstapel Dr. Sören Philipps, promovierter Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Dozent, Lehrbeauftragter, 43 Jahre. Auf seinem Schreibtisch steht ein beigefarbenes Telefon aus Zeiten der Bundespost, das noch diese großen schwarzen Tasten zum Wählen zieren, rechts daneben klemmen bunte Bücher im Regal. Das Büro ist so groß wie ein Zimmer im Studentenwohnheim, Philipps hat es sich mit einem Kollegen geteilt. Doch jetzt ist auch das vorbei. „Existenzängste?“, fragt er und lacht trocken. „Die habe ich ständig.“

Die nächsten Monate werden darüber entscheiden, ob er noch die Kurve bekommt in die Wissenschaft oder ob er aus der Bahn getragen wird. Schon jetzt reicht es ohne Arbeitslosengeld nicht zum Leben. Dabei fing alles so gut an. Der Magister, den er mit „sehr gut“ abschloss, sodass ihn seine damalige Professorin fragte, ob er nicht eine Doktorarbeit anschließen wolle. Ja, wollte er. „Ich wollte in die Wissenschaft.“ Dann vor elf Jahren die Promotion mit „summa cum laude“, der Bestnote. Philipps kann begeisternd erzählen von seiner Arbeit über die Haltung zweier deutscher Rundfunkanstalten zur Wiederbewaffnung der frühen Bundesrepublik. Präzise und all das parat habend, was sich damals ereignete. Ein Typ, dem man gerne zuhört. Man kann gut verstehen, dass sie Philipps haben wollten am Historischen Seminar und an anderen Instituten. Wenn er heute davon spricht, klingt es wie der Beginn einer Drogenkarriere. Man fühle sich ja geschmeichelt, wenn man vom Professor angesprochen werde, sagt er. „Man wird da angefüttert.“



Tausende Forscher arbeiten in unsicheren Verträgen.

Satte 84 Prozent der 160000 wissenschaftlichen Mitarbeiter an Deutschlands Hochschulen haben mittlerweile Zeitverträge. Sie unterstützen Professoren, schreiben an ihrer Doktorarbeit, managen Organisationskram, und mitunter forschen sie auch. Es gibt volle Stellen, viele halbe Stellen und manchmal nicht einmal das. Kürzlich hat der Wissenschaftsrat, das einflussreichste Beratergremium in der Bildungspolitik, die Zustände im sogenannten Mittelbau angeprangert. Die Nachwuchswissenschaftler gingen in einigen Fächern ein „beträchtliches Risiko ein“, sie seien schlecht bezahlt, eine Forscherkarriere in vielen Fällen unattraktiv. Die Chancen sind geschwunden, dass man am Ende den begehrten Posten als Professor erreicht. Denn Dank allerlei Förderprogrammen und Promotionsangeboten gibt es nun zwar viel mehr Doktoren, also mögliche spätere Professoren. Doch die Zahl der Professoren-Stellen ist in den vergangenen acht Jahren nur wenig gewachsen. Das Leben auf Zeitverträgen erweise sich häufig „erst sehr spät als Sackgasse“, schreibt der Wissenschaftsrat.

Philipps lebt mit kurzen Unterbrechungen seit 14 Jahren von Zeitverträgen in der Wissenschaft. Mal waren es drei Monate am Institut für Politikwissenschaft, mal eine halbe Stelle bei den European Studies. Bis März vertrat er eine Geschichtsprofessorin für ein Semester. Dafür bekam er netto immerhin an die 1900 Euro im Monat. Einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung hat er nicht. Es ist ein Leben auf Probezeit. Und dann gibt es da noch das Dasein als Dozent, der für einzelne Lehrveranstaltungen honoriert wird. Das ist so eine Art Sahnehaube auf dem Cocktail der Unverschämtheiten. Das Rezept geht so: Ein Seminar mit Bachelor-Studenten geht über 17 Doppelstunden, pro Stunde gibt es 25 Euro. Das klingt nicht schlecht und summiert sich auf rund 800 Euro. Doch mit den Stunden an der Uni ist es natürlich längst nicht getan. Man muss das Seminar vorbereiten und danach zig Hausarbeiten korrigieren, jeweils mit individuellem Kurzgutachten. „In Wirklichkeit ist der Arbeitsaufwand drei mal so hoch“, sagt Philipps. Und damit kommt man auf 8,33 Euro – etwas weniger als der allgemeine gesetzliche Mindestlohn. Für die Arbeit eines Doktors der Geschichtswissenschaft. Philipps macht es trotzdem.

„Ich habe den Lebensstandard und das Lebensgefühl eines Studenten“, sagt er. Das klingt beschwingt, doch so ist es nicht gemeint, weil man mit 43 Jahren das Studentenleben durchaus satt haben kann. Wenn er frühere Mitschüler aus seinem Abiturjahrgang trifft, sieht er Mittvierziger in gut bezahlten Jobs mit Kindern. Er hat dann die Rolle des armen Exoten und akademischen Lebenskünstlers. Mit seiner langjährigen Freundin hat er immer wieder über Kinder gesprochen. Die Freundin ist jetzt Mitte dreißig. Es wäre langsam Zeit. Aber jetzt ein Kind, in diese Unsicherheit hinein? „Ich möchte keine Kinder auf Hartz IV großziehen“, sagt Philipps.

Spricht man mit anderen Nachwuchswissenschaftlern, hört man ähnliche Geschichten. Es sind Geschichten von der ständigen Jagd nach dem nächsten Zeitvertrag, nach Drittmittelposten, gesponsert von der deutschen Forschungsgemeinschaft oder dem Deutschen Akademischen Austauschdienst. Es sind Geschichten von Ausbeutung und Zweifeln, es überhaupt noch auf eine feste Stelle zu schaffen. Doch es traut sich fast niemand, darüber öffentlich zu reden. Die Professoren oder Förderer könnten ja verärgert sein – und den nächsten Vertrag verweigern. Nur wenige haben so viel Mut wie Philipps.

Wer ist verantwortlich für dieses neue Prekariat an Wissenschaftlern? In seinem eigenen Fall gibt sich Philipps auch selbst die Schuld. Er sei zu lange auf Stellen gewesen, die ihn nicht weiterbrachten, habe sich dort vereinnahmen lassen statt Aufsätze und Bücher zu publizieren, habe zu wenig an seinem Netzwerk gearbeitet. Das braucht man eben, um weiterzukommen. Aber das ist nicht alles. „Meine damalige Professorin hat es meisterhaft verstanden, einem Hoffnungen zu machen und dies auszunutzen.“ Man habe ihm und anderen Nachwuchswissenschaftlern Stellen angeboten, auf denen man nicht zum Forschen und damit nicht auf bessere Stellen komme. „Unredlich“ nennt Philipps das. Ebenso wie die übliche Praxis, Mitarbeiter befristet sechs oder zwölf Monate auf halben Stellen schmoren zu lassen, auch wenn der Professor Geld für zwei oder drei Jahre zur Verfügung hat. Der Vorteil für den Chef: die Untergebenen haben mehr Erfolgsdruck. Die Konkurrenz zwischen den Mitarbeitern ist größer, wer nachlässt, dessen Vertrag lässt er einfach auslaufen.

Wer ist verantwortlich? In Hannover Harry Noormann, der Dekan der Philosophischen Fakultät und damit grob gesprochen der Oberorganisator. Der freundliche Theologie-Professor analysiert die Lage lieber wie ein Forschungsobjekt als von Schuld zu sprechen. Man werde nichts daran ändern können, dass die Uni Zeitverträge produziere als Durchlauferhitzer, sagt er. Die Logik sei, durch den Wettbewerb der Wissenschaftler Innovationen hervorzurufen. Unsicherheit wird so zum Erfolgsfaktor. Aber auch er ist unzufrieden damit: „Die Sensibilität für die Situation der Beschäftigten hat gelitten“, so drückt Noormann es aus. Schuld seien auch die Vorgaben der Politik. Die Länder geben ihren Hochschulen bis auf ein paar Ausnahmen immer weniger verlässliche Haushaltsmittel, der Anteil der befristeten Zuschüsse dagegen wächst seit Jahren. Daran hängen Stellen, die ebenfalls befristet sind. Das sieht auch Philipps als großes Problem.

Ach ja, sagt Noormann, man habe das Thema im Fakultätsrat diskutiert und Empfehlungen beschlossen. Die Verträge sollten drei Jahre laufen und Zeit für die eigene Qualifikation lassen, heißt es da. Das ist gut, aber so eine Empfehlung bindet keinen einzigen Professor. Da kann auch Noormann nichts machen. Für Philipps kommt sie ohnehin zu spät. Nach zwölf Jahren mit wissenschaftlichen Zeitverträgen muss Schluss sein, so will es das Gesetz. Philipps hofft auf die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Sie soll ihn noch ein paar Jahre finanzieren für seine Habilitation. Für eine Professoren-Stelle wäre er dann trotzdem zu alt. „Ich muss gar nicht Professor werden, mir reicht mehr Sicherheit“, sagt er.

Nach dem Gespräch in Hannover dann die gute Nachricht: Er habe eine volle Stelle bekommen, sagt Philipps am Telefon, ab dem 1. Oktober. Für drei Monate.

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