Quantcast
Channel: Alle Meldungen - jetzt.de
Viewing all articles
Browse latest Browse all 6207

Der Stamm ist voll

$
0
0
Sei willkommen, Europäer. Komm und sieh dir das Scheitern deiner Ahnen an.“ John „Mosqua“ Thomas, Kriegsminister der Narragansett, lacht und klopft dem Gast hart auf die Schulter, führt ihn ins Zentrum der Lichtung zu den Tänzern. Eben umrunden die Damen in strengen, kleinen Schritten das Feuer, Decken überm Arm wie flatternde Partner. Ein Samstagmorgen im August, die Narragansett feiern ihr Jahrestreffen. „Es ist Pow-Wow-Zeit“, hat einer mit dem Finger in den Staub einer Autoheckscheibe geschrieben. Aus dem ganzen Land kommen Stammesleute zur Reservation in Rhode Island. „Heute zeigen wir der Welt, dass es uns noch gibt“, sagt Thomas. „500 Jahre lang wollten die Weißen uns vernichten. Es ist ihnen nicht gelungen. Wir sind immer noch da. Gescheitert. Willkommen.“



Wenn Deutsche an Indianer denken, denken die meisten wohl an Winnetou - an Stammesfehden in den heutigen USA eher nicht.

Der War Chief hat den Federschmuck abgelegt und eine Baseballmütze aufgesetzt. Die Sonne brennt, Schatten ist knapp, am Limonadenstand bilden sich erste Schlangen. Der Festplatz füllt sich, immer neue Gäste werden in Geländewagen vom Parkplatz an der Hauptstraße durch den Wald auf die Lichtung gefahren. Der Pow-Wow ist öffentlich. Auch aus Deutschland seien schon Besucher da gewesen, sagt John Thomas und lacht wieder: „Sie waren sehr respektvoll. Aber einige bei euch nehmen das sehr ernst, nicht wahr? Halten sich selber ein bisschen für Indianer?“ Ein Stamm der Möchtegerns. Aber warum nicht: „Für mich heißt Indianersein, als freier Geist zu leben. Das steht jedem offen.“

Doch in den meisten Stämmen kommt man mit diesem Satz nicht weit. In den USA wird zunehmend heftig darum gestritten, wer Indianer sein darf – und wer nicht. Viele der 566 national anerkannten Stämme haben ihre Mitgliederauflagen verschärft. Es ist in den letzten 20 Jahren schwieriger geworden, Teil einer indigenen Gemeinschaft zu sein und zu bleiben.

Bei den Narragansett etwa werden bis auf die Kinder etablierter Stammesleute keine Anwärter mehr aufgenommen; die Mitgliederrollen sind abgeschlossen, der Stamm ist voll. Gelegentlich wird sogar entfernt, wer sein Leben lang dazu gehört hat: Seit 1993 hat die Stammesführung mehrfach von genealogischen Ausschüssen prüfen lassen, ob wirklich alle im Volk lückenlos dokumentiert ihre Abstammung auf das Narragansett-Urverzeichnis von 1880 zurückführen können. In mehr als 100 Fällen gab es Beanstandungen. „In heutiger Zeit reichen eine gute Geschichte oder ein Bauchgefühl nicht mehr“, sagt War Chief John Thomas, 70, und sieht nicht glücklich aus. „Du musst Papiere haben, Geburts- und Sterbeurkunden, DNA-Proben – das ganze Programm.“ So wollen es die Regeln der Gemeinschaft.

Wer diese steigenden Ansprüche nicht erfüllen kann, hat ein Problem. Überall in den USA werden ganze Familien von ihren Stämmen ausgeschlossen, ausgebürgert, von den Rollen getilgt. In Oregon hat das Bündnis der Grand Ronde eben 86 Personen die Zugehörigkeit entzogen; ihre Vorfahren seien zweifelhaft, ihr Ausschluss „stärke“ die Identität des Stammes. In Kalifornien haben die Pala 15 Prozent ihres Volkes ausgeschlossen, 154 Personen, und die Chukchansi mehrere hundert Mitglieder wegen mangelhafter Stammbäume vor die Tür gesetzt. Insgesamt sind Tausende betroffen, Fachleute sprechen von einer Epidemie der Ausschlüsse: „Es ist tragisch, aber manche Stämme dezimieren sich selbst“, meint David Wilkins, Rechtsprofessor an der Universität von Minnesota und Angehöriger der Lumbee. Nach 500 Jahren Widerstand gegen Vernichtung und Zwangsassimilation löschen heute die Stämme selbst indianische Existenzen aus.

Die Massenausschlüsse sind ein neues Phänomen und teilweise auch der Gier geschuldet. Seit den frühen 1990er Jahren dürfen staatlich anerkannte Stämme in den USA Spielcasinos betreiben; die Gewinne sind oft erklecklich und werden an die Gemeindemitglieder verteilt. Die Pala in Kalifornien sollen ihren Angehörigen bis zu 150 000 Dollar pro Jahr und Kopf überweisen können, anderswo ist es noch mehr. Wird die Zahl der Stammesleute verringert, bleibt für die Verbleibenden natürlich mehr übrig. „Der steigende Wohlstand der Stämme hat das Problem der Ausschlüsse sicher verschärft“, sagt David Wilkins. Nicht immer muss es dabei um Casinos gehen: Die Shoshone in Wyoming verbuchen Einnahmen aus der Öl- und Gasförderung auf ihrem Land. Auch sie haben ihre Mitgliederlisten durchleuchtet und Ausschlüsse vorgenommen.

Einige Stämme sind nicht nur auf dickere Gewinne aus, sondern achten auf Blut. Mit Ausschlüssen soll der Genpool gewartet werden. Die Cherokee Nation in Oklahoma hat 2007 landesweit für Empörung gesorgt, als eine Mehrheit ihrer Mitglieder sich in einer Abstimmung für die Ausbürgerung einiger Tausend Cherokee Freedmen aussprach. Diese Freedmen sind die Nachfahren schwarzer Sklaven, welche die Cherokee bis zum US-Bürgerkrieg hielten und dann zu vollwertigen Stammesmitgliedern machten. Offenbar wird diese Eingemeindung heute bereut. Die Freedmen hätten „zu wenig Cherokee-Blut“, um wirklich dazuzugehören, argumentierte die Stammesführung vor dem Urnengang. Das hat ihr den Vorwurf des Rassismus und eine Klage der US-Regierung eingebracht.

Bei den Narragansett ist nichts zu holen, weder Casino-Millionen noch reines Blut. Rhode Island verbietet mit etlichen juristischen Tricks den Glücksspielbetrieb; die Narragansett sind arm, die Leistungen ihrer Verwaltung beschränkt. Reich ist man allein an Vielfalt: Beim diesjährigen Pow-Wow kommt in der Reservation ein beeindruckend bunter Stamm zusammen. Manche der herausgeputzten Krieger sind so hellhäutig, dass die Augustsonne sie bereits vormittags tüchtig verbrannt hat. Andere sind so dunkel, dass sie im Alltag ohne Federschmuck zweifellos als Afroamerikaner wahrgenommen werden. „Guten Menschen ist es egal, wie jemand von außen aussieht“, sagt Swift Cloud, ein eher heller Waffentänzer, der im zivilen Leben Alarmanlagen verkauft. Nach fünf Jahrhunderten der Durchmischung könne die Idee der Reinheit getrost begraben werden.

Die Stammesführung sieht das weniger locker. Mag die äußere Hülle egal sein – das Blut darunter ist es nicht. In den letzten 20 Jahren haben die Narragansett mehrere Familien ausgeschlossen oder zumindest zur Beibringung neuer Ahnentafeln aufgefordert. „Sie machen mit dir, was sie wollen“, flüstert Alan Sampson, ein weicher, dunkler Mann in Straßenkleidern, der beim Pow-Wow am Rand des Tanzplatzes im Klappstuhl sitzt. Seine Sippe kämpfe schon seit Jahren gegen den Ausschluss, aber die geforderten Beweise und Urkunden seien fast unmöglich aufzutreiben. „Ich kann dir nicht beschreiben, wie schmerzhaft es ist, wenn dich deine eigenen Leute nicht mehr anerkennen“, sagt Sampson.

Wen es trifft, verliert viel – auch ohne Casinogelder. Stammesmitglieder haben politische Rechte und Anspruch auf Bundesgelder, auf medizinische Versorgung oder Ausbildungszulagen. Außerdem stehen etliche Bundesstipendien nur Native Americans zu, die Mitglied eines anerkannten Stammes sind. Ausgeschlossene gelten rechtlich als Nichtindianer – ganz egal, wie sie heißen oder aussehen. Schwerer als alles Materielle wiegt der emotionale Verlust, sagt Lorén Spears, die Direktorin des Tomaquag-Museums für indianische Kultur in Rhode Island und eine Angehörige der Narragansett. „Du verlierst die Bindung zu den Menschen, die du dein Volk nennst.“ Man werde „abgeschnitten“, für die Betroffenen sei es furchtbar.

Kein gutes Thema für ein Fest der Einheit. Häuptling Matthew „Seventh Hawk“ Thomas ist nicht begeistert, dass er auf Mitgliederausschlüsse angesprochen wird. Der Hüne im roten Lederkleid steht dem Stamm der Narragansett seit 17 Jahren vor, und in dieser Zeit will er keine problematischen Ausschlüsse erlebt haben: „Der Stammesrat stellt sicher, dass niemand zu Unrecht seine Mitgliedschaft verliert“, erklärt er. Dafür sei eigens ein neuer Ahnenforschungs-Ausschuss eingesetzt worden, der alle strittigen Fälle prüfe. An den Regeln ändere dies nichts: „Wer kein Narragansett-Blut hat, kann nicht dazu gehören.“ Solche Strenge sei nötig, so Thomas, um die Identität des Volkes zu schützen, durch die Zeit retten: „Das ist der Sinn eines Stammes.“

Die Narragansett verstehen sich aufs Bewahren. Ihr Sommertreffen ist der wohl älteste durchgehend dokumentierte Pow-Wow Nordamerikas. 1675 wurde das Fest erstmals erwähnt, ein Jahrhundert vor der Gründung der USA. Natürlich sei es noch viel älter, sagt Kriegsminister John Thomas; vor den Kolonisten habe einfach niemand darüber geschrieben. Von der Ankunft der ersten Pilger berichtet er, als sei er gerade dabei gewesen: „Wir haben sie gehört und gerochen, lange bevor ihre Schiffe in Sicht kamen.“ Es roch nicht gut. Man habe die Fremden gebeten, an anderer Stelle anzulegen. Deshalb seien sie nach Plymouth in Massachusetts. Genutzt hat es nichts. Bis 1700 waren nur noch einige Hundert Narragansett am Leben, der größte Teil ihres Landes geraubt.

Immer in Stammesbesitz blieben die zwei Morgen Sumpfland, auf denen der Pow-Wow stattfindet. Sie sind das Herzstück der heutigen Reservation. Hier steht die kleine Kirche, die während des Sommerfests zur Kühlstation umfunktioniert ist, in der Kinder und Alte Schutz vor der Hitze suchen. Hier haben die Beamten der Stammespolizei ihre Geländebuggys geparkt. Sie markieren Präsenz; Alkohol ist auf dem Gelände verboten – wer bechern will, verzieht sich auf die Parkplätze oder in den Wald. „Es stimmt“, sagt War Chief Thomas und schaut sich um. „Unser Land besteht vor allem aus Sumpf.“ Doch für die Narragansett sei das nicht schlimm. „Aus dem Sumpf kommt alles Leben.“ An dieser Stelle habe der Stamm überlebt und überdauert, sich nach den Vernichtungskriegen wieder neu aufgebaut. „Soll er da nicht entscheiden dürfen, wer dazu gehört?“

Mitgliedschaften sind wie Hochzeiten, Jagdrechte und andere tribale Belange allein Sache der Stämme. Seit den Siebzigerjahren überlässt die US-Regierung die First Nations offiziell sich selbst. Einige Fachleute glauben, dass diese neue Autonomie der Stämme für die Ausschlüsse verantwortlich ist: „Dass die Stämme heute strikter sind, zeigt vor allem ihre Stärke“, glaubt Frederick Hoxie, Professor für Recht und Geschichte an der University of Illinois und Herausgeber einer 23-bändigen Geschichte der amerikanischen Ureinwohner. Wenn ein Stamm Mitglieder ausschließe, so übe er schlicht Regierungsgewalt aus: „Wie jede andere Regierung muss auch eine Stammesführung Regeln schaffen, wenn es um Mitgliedschaft in ihrer Gemeinde geht.“

Die Stämme waren nicht immer so besorgt ums Blut. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden weiße Händler und Siedler regelmäßig in indianische Gemeinschaften aufgenommen und zu Stammesleuten gemacht. „Damals ging es eher um Loyalität und Einsatz als um Blut und Stammbäume“, sagt Colin Calloway, Historiker an der Universität Dartmouth. Manche berühmten Indianer der Vergangenheit hatten keine oder kaum indianische Vorfahren; der Anführer der Cherokee zur Zeit der großen Vertreibung nach 1830, dem „Trail of Tears“, war John Ross, zu sicher sieben Achteln ein Schotte. Dabei sind weiße Indianer zentral in der US-Populärkultur, vom „Letzten Mohikaner“ bis zu „Der mit dem Wolf tanzt“. Dabei geht es auch um Schuld: Lieber als die viel zahlreicheren Vernichter indianischer Kulturen porträtiert Hollywood Freunde und Adoptivkinder der Urbevölkerung.

Dass Blut und Abstammung in jüngster Zeit so wichtig geworden sind, mag auch mit den Hippie- und New-Age-Möchtegernindianern zu tun haben, die einigen indigenen Gemeinden seit den Siebzigerjahren die Tür einrennen. Für die Ausschlusswelle gibt es keine historische Präzedenz, sagt Rechtsprofessor David Wilkins. „Wir waren einst spirituelle Gemeinschaften, die Zugehörigkeit verlor man nur im Extremfall.“ Heute benähmen sich viele Stämme wie kalte Körperschaften, die mit Checklisten über Mitglieder entschieden.

Die Situation ist paradox. Denn mit der Blutsversessenheit übernehmen die Stämme die Kategorien der Kolonisten. Es war die US-Regierung, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts darauf versteift hat, dass Indianertum eine Frage des Blutes sei. Aus dieser Zeit stammen auch pseudowissenschaftliche Begriffe wie das Halbblut. Ziel dieser Denkart war Ausgrenzung: Vollblutindianer wurden schlechter gestellt als halbweiße, am Ende sollten sie ganz verschwinden. Die Urrolle der Narragansett von 1880, zu der man heute unbedingt gehören muss, ist durch die Regierung von Rhode Island angefertigt worden, als sie den Stamm auflöste und dessen Ansprüche vernichtete. Es war eine Liste der letzten Narragansett.

Solches Vernichtungsdenken mag Geschichte sein. Doch noch immer ist Blut für den US-Staat das zentrale Kriterium im Umgang mit den Ureinwohnern. Das Bureau of Indian Affairs in Washington zertifiziert Einzelpersonen den indianischen Blutsgehalt bis auf die Bruchstelle in einem amtlichen Ausweis. Gewisse Bundesprivilegien, etwa Bildungsstipendien, gibt es nur von einem Blutsgehalt von einem Viertel. Außerdem führt die Regierung die Liste der anerkannten Stämme. Nur wer da drauf steht, darf zum Beispiel ein Casino betreiben. Um auf die Liste zu gelangen, muss ein Stamm eine Reihe strenger genealogischer Auflagen erfüllen. Die Narragansett haben es 1983, nach fast 100 Jahren Kampf geschafft. Kein Grund zu feiern, findet Häuptling Matthew Thomas: „Wir Indianer sind die einzigen, die dem Staat wie Zuchtpudel mit Stammbäumen belegen müssen, dass wir sind, was wir behaupten.“ Diese Beweisführungspflicht sei erniedrigend.

Bittere Ironie also, dass die Stämme heute selber auf solche Belege pochen. Doch Kritik an den Ahnenprüfungen und Ausschlüssen ist unerwünscht. Wer die Entscheide der tribalen Behörden in Frage stellt, scheint auch am Selbstbestimmungsrecht der Stämme zu rütteln: „Mitgliedschaften sind komplex, aber sie sind unsere Sache“, sagt Lorén Spears vom Tomaquag-Museum. Der Stamm wisse selbst am besten, wer zu ihm gehöre. Externe Schlichter sind undenkbar: Die Narragansett fühlen sich von den weltlichen Behörden ohnehin schon bevormundet. Vor einigen Jahren hat die Polizei von Rhode Island in der Reservation einen steuerfreien Tabakladen geschlossen und ist dabei wohl unnötig grob vorgegangen. Es gab Verletzte, auch Häuptling Matthew Thomas wurde verhaftet. „Das weiße Amerika lässt uns nicht in Ruhe, begegnet uns noch immer mit Gewalt“, sagt der Chief.

Nicht immer verlaufen die Trennlinien zwischen den Welten ganz scharf. Am Pow-Wow der Narragansett mischt sich indianisches Brauchtum mit amerikanischer Wochenendkultur: Baseballmützen, Klappstühle, Kühlboxen – aber auch Männerzöpfe, Äxte und Gesichtstattoos. Das Leben als Amerikaner und Narragansett sei „eine Art doppelte Staatsbürgerschaft“, meint Byron „Sun Rise“ Brown. Der pensionierte Polizist, 75 Jahre alt, trägt ein blaues Blumenhemd und hält einen Fächer aus Truthahnfedern in der einen und einen Knüppel mit Vogelklaue in der anderen Hand. Seine indianische Zugehörigkeit sei allerdings gerade umstritten: Die Narragansett hätten ihn ausgebürgert, weil der politisch ambitionierte Brown seinen eigenen, inoffiziellen Stamm gegründet habe, in dem er selber Häuptling sein darf. „Das hat ihnen nicht gefallen. Ich wurde ausgeschlossen, nicht einmal eine Einspruchsfrist gab es.“ Brown sagt es ohne Zorn; es sei „ein Streit“ gewesen, eine Fehde, weiter nichts. Nun rede man wieder miteinander. Er steht beim Versorgungszelt des Pow-Wow, wo Lachs und Jakobsmuscheln auf dem Grill braten, und scherzt mit den schwitzenden Köchinnen. „Alles meine Verwandten“, lacht er. Nur wegen einer kleinen Ausbürgerung werde er beim Fest nicht fehlen. „Ich weiß ja, wer ich bin.“

Viewing all articles
Browse latest Browse all 6207