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Die Volks-Armee

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Ihor Saizew hat für seinen Nachbarn eine Schutzweste gekauft. Kein übliches Präsent unter Hausbewohnern, sollte man meinen, aber in der Ukraine schenken sich Menschen neuerdings nicht nur Blumen oder Pralinen, sondern gern auch mal ein Nachtsichtgerät oder eine Uniform. Denn die Armee führt Krieg, aber die Armee ist schlecht ausgerüstet und hat oft nicht einmal Geld für Nahrungsmittel oder Wasser.



Weil es den ukrainischen Soldaten an fast allem fehlt, werden viele privat ausgestattet.


Ihor ist Unternehmer in Kiew, aber er hat Geldsorgen. Er verkauft Glückwunschkarten und Geschenkpapier, doch der Umsatz ist eingebrochen. Die Käufer von der Krim fehlten ganz, sagt er, und im Donbass kaufe derzeit auch niemand Geburtstagskarten. „Die Leute haben bei ihrem Versuch, zu überleben, weiß Gott andere Sorgen.“ Aber: Sein Nachbar muss an die Front, zur „Antiterror-Operation“ in der Ostukraine. Und weil die Ukrainer wissen, dass es dort an fast allem fehlt, werden viele Soldaten privat ausgestattet, von Verwandten, Freunden. Überall im Land sammeln außerdem Freiwilligen-Organisationen für die Soldaten, Geld oder Sachspenden, alles wird genommen. Und viel wird gegeben. Der Kommersant, eine der einflussreichsten Wochenzeitungen im Land, hat gerade erst eine Titelgeschichte dazu gemacht. Darauf zu sehen ist ein umgedrehter Militärhelm, vollgestopft mit Geldscheinen. Die Schlagzeile: „Warum Freiwillige die Soldaten besser versorgen als der Staat.“


Das Problem, schreibt Kommersant, sei nur zum Teil zurückzuführen auf die großen Lücken im Staatshaushalt. Vielmehr wolle das ukrainische Verteidigungsministerium alles korrekt machen, sich keine Korruption vorwerfen lassen, und deshalb schreibe es alle größeren Aufträge aus. Das könne dauern – und so warteten die Soldaten im Feld manchmal Wochen auf lebensrettende Medikamente oder auch nur auf neue Schuhe. Zumal der gute Wille offenbar nicht ausreicht, um die nach wie vor endemische Korruption zu stoppen: Jedenfalls gewann etwa eine Ausschreibung für dringend benötigte Schutzwesten die Firma des mächtigen Oligarchen und Gouverneurs von Dnjepropetrowsk, Igor Kolomojskij, die das Stück für 18000 Griwna (etwas mehr als 1000 Euro) anbot; eine Konkurrenzfirma hätte es für 8000 Griwna pro Weste gemacht. Bei der kaufen nun die Freiwilligen ein und schaffen das Material an die Front.


Mindestens zehn Millionen Euro haben sie nach Schätzung von Experten bei ihren ukrainischen Landsleuten eingesammelt. Die sarkastische Bemerkung von Russlands Präsident Wladimir Putin zu Beginn des kriegerischen Konflikts auf der Krim, dort seien keine russischen Soldaten im Einsatz, schließlich könne man Uniformen ja auch im Supermarkt kaufen, bekommt angesichts dieser Dimensionen eine ganz neue Bedeutung. Die Unterstützer kaufen tatsächlich zum Teil in Supermärkten ein, was die Soldaten brauchen, aber auch auf dem internationalen Markt. Manche Bataillone, so sagen Fachleute, bekämen gut die Hälfte ihrer Güter – Uniformen, Schuhe, Helme, Nahrungsmittel, Westen, Tabletten zur Wasserreinigung, Medikamente – nicht von den Beschaffungsämtern der Armee, sondern von den Organisationen, die sich überall im Land gebildet haben.


„Frieden und Ordnung“ ist eine davon; Unternehmer in Charkiw haben sie im April gegründet, weil sie fanden, man könne den Staat zwar nicht ersetzen, andererseits müsse man „auch nicht beiseite stehen“, wenn es Krieg gibt im Land. Ihr Wahlspruch lautet: „Es ist unser und euer Haus.“ Patrioten, Nationalisten – das sind Zuschreibungen, welche etwa die Aktivistinnen Tatjana Landesman oder Iwanna Skiba-Jakubowa, die für den Verein sprechen, nicht von sich weisen würden. Sie sind stolz darauf. Radikale Kriegstreiber seien die Mitstreiter von „Frieden und Ordnung“ deshalb aber nicht gleich, sagt ein Sympathisant, eher sei die Aktion vom Willen der Charkiwer Wirtschaft getragen, zu einem Sieg der ukrainischen Kräfte und damit die – optimistische – Hoffnung, zu einer baldigen Beruhigung der Lage beizutragen und den Krieg fernzuhalten aus ihrem friedlichen Ort.


Der Fonds mit dem staatstragenden Namen sammelt mithin Geld und Sachmittel in der Region Charkiw. Von hier aus ist die Front in wenigen Stunden auf Schleichwegen zu erreichen; militärischen Schutz gibt es für die Busse nicht, die sich zu den Soldaten durchschlagen. Jede der vielen derartigen Organisationen hat „ihre“ Truppenteile, für die sie sich zuständig fühlt; die Gruppe aus Charkiw etwa versorgt ein ukrainisches Luftlande-Regiment und die Spezialeinheit des Innenministeriums „Jaguar“, Brigaden der Nationalgarde und der Miliz. Man kennt sich mittlerweile aus, und man kennt sich. Die Liste der Leistungen und Lieferungen, die „Frieden und Ordnung“ stolz vorweist, ist lang: 400 Schutzwesten sind darunter, aber auch komplette Ausrüstungen für die Bataillone „Sloboschanschina“ und „Kharkow“ samt „Kampfausrüstung, Kommunikationstechnik und Feinderkennungstechnik“. Aber auch Tragen und Betten für das örtliche Krankenhaus, in dem Verletzte aus dem Einsatz im Donbass liegen, gehören dazu.


In der Regierung hat das Engagement der Ersatz-Beschaffer ein doppeltes Echo ausgelöst. Einerseits hat das Verteidigungsministerium mittlerweile einen miserablen Ruf; zu viele Soldaten müssten sterben, heißt es in der Bevölkerung, weil sie so schlecht ausgerüstet seien, der Staat jage die jungen Leute sehenden Auges in ihr Unglück. Immer wieder gehe den Soldaten im Einsatz schlicht die Munition aus, sie seien den Separatisten ausgeliefert, das sei unterlassene Hilfeleistung, sagt etwa der Kiewer Unternehmer Ihor. Trauriges Beispiel dafür: Kürzlich waren knapp 400 ukrainische Soldaten in der Grenzregion von pro-russischen Kräften eingeschlossen und hatten keine Munition mehr. Sie überquerten in ihrer Not die Grenze, nachdem sie einen russischen Offizier per Telefon informiert hatten, dass dies kein Angriff auf die Russische Föderation sei – und retteten sich nach Russland. Ein Großteil kehrte später in die Ukraine zurück.


Andererseits ist der Patriotismus – vielleicht sogar angesichts der schlechten Versorgungslage der „Antiterror“-Kräfte – trotzdem ungebrochen. Die Regierung nutzte das unlängst dazu, das Budget für die Armee noch einmal mit einer neuen Steuer zu füttern. Etwa neun Milliarden Griwna, umgerechnet 550 Millionen Euro für die „Antiterror-Operation“ sollen etwa in Form einer Kriegsteuer bereitgestellt werden, die 1,5 Prozent auf das steuerpflichtige Privateinkommen beträgt. Der Kampfeinsatz im Osten kostet die Ukraine derzeit 70 Millionen Griwna (4,2 Millionen Euro) pro Tag.


Derweil bittet der Nachbar von Ihor noch immer bei Freunden um Geld für seine Ausrüstung. Man kann nie wissen, was zum Schluss fehlt, wenn er 600 Kilometer weiter östlich landet.


Schlecht gerüstet: Soldaten der ukrainischen Armee, hier bei einem Einsatz im ostukrainischen Druschkowka, sind auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen. Viele Organisationen haben bereits „ihre“ Truppenteile, für die sie sich zuständig fühlen.

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