Gerd (Brille, Kappe, weißer Blaumann, Knopf im Ohr) steht auf einer Leiter, installiert eine Deckenleuchte und führt nebenbei ein Telefonat via Headset, als wir ankommen. Wir sind in Hamburg-Wilhelmsburg, denn Leserin Christine hat sich von uns gewünscht, dass wir in einem Baumhaus übernachten. Nur steht das Baumhaus da nicht isoliert. Sondern mitten auf einem Kinderbauernhof.
In der Natur schlafen, hach wie schön. Und ein Bauernhof, das muss ja idyllisch werden. Oder nicht? Der Kinderbauernhof Kirchdorf e.V. (KiBaHo) liegt in einem sozialen Brennpunkt. Baumhaus plus Bauernhof liegen direkt neben einer großen Plattenbausiedlung.
Gerd auf der Leiter im gelb-blauen Haupthaus ist hier der Boss. Auf den ersten Blick sieht er fit und zufrieden aus. Erst in der Nacht werden wir erfahren, dass ihn die Arbeit hier in letzter Zeit oft traurig macht. Hühner, Gänse, Kinder und ein Schwein laufen über den Hof. Das Schwein nennt Gerd „Protestschwein“, es sollte eigentlich geschlachtet werden, er hat es gerettet. Mitarbeiter führen Pferde über die Wiese.
[plugin bildergalerielight Bild1="Der Kinderbauernhof in Hamburg-Wilhelmsburg" Bild4="Neben dem Bauernhof ragt eine Plattenbausiedlung in den Himmel" Bild2="Gerd, der Hof-Chef, rettet Tiere, zum Beispiel Papageien" Bild3="Lisa im Baumhaus" Bild5="Steffi im Baumhaus" Bild6="Der Mond ist der Erde in dieser Nacht besonders nah"]
Ein Junge hockt auf allen Vieren am Boden und beißt ins Gras. „Du musst jetzt hier kein Gras fressen“, sagt seine Mutter. „Aber ich bin doch ein Meerschweinchen.“ 50-60 Kinder kommen jeden Tag, um kostenlos Tiere zu streicheln und um wichtige Aufgaben zu erledigen. „Hey, Jana, hast du deinen Auftrag schon ausgeführt?“ ruft Gerd im Befehlston über den Hof. Auf dem KiBaHo gibt es ein Punktesystem: Für jede übernommene Aufgabe gibt es Punkte. Die Kinder können so Pflegschaften für Tiere übernehmen. Ab acht Punkten das Kaninchen. Die meisten wollen aber ein Pony. Dazwischen muss man erst die störrischen Ziegen überstehen. Jana ist noch im Kaninchen-Status. Sie soll die Tiere einsammeln, bevor es dunkel wird.
Währenddessen zeigt Gerd uns unsere Schlafstätte. Er hat das Baumhaus selbst gebaut. „Ich hab einfach ein Gartenhäuschen in die Bäume gesetzt.“ Das blaue Häuschen hat einen Minibalkon mit Geranien, zwei Fenster und ein paar Matten, auf denen wir schlafen werden. Baumhaus deluxe. Kostet aber auch 66 Euro pro Nacht.
Um 19 Uhr sind die meisten Kinder weg. Wir entdecken noch ein paar im Hühnerstall, die ihre Aufgabe „Eier einsammeln“ ernsthaft und bis zur letzten Minute verfolgen. Danach sind hier nur noch Gerd und die Tiere. Die meisten von ihnen haben eine schwierige Vergangenheit: Die Katze, die aussieht wie Garfield, hat keinen Schwanz mehr. Die Papageien wohnten vorher in zu kleinen Käfigen und können nicht mal fliegen. „Viele der Tiere sind Scheidungstiere“, sagt Gerd.
Abends wirkt er viel älter als tagsüber. Er nimmt sein Headset ab. Er ist 59 Jahre alt, seit 27 Jahren arbeitet er hier. Letzte Woche 93 Stunden. Geld bekomme er dafür nicht, erzählt er uns. Er ist langzeitarbeitslos. 1987 wohnte er noch selbst in Wilhelmsburg, hatte eine sechsköpfige Familie, einen Job als Elektromeister und viele andere Eltern als Mitstreiter, die gemeinsam einen Bauernhof aufbauen wollten, damit ihre Kinder die Natur kennenlernen. Damals bezuschusste die Stadt Hamburg das Projekt.
27 Jahre später erhält der KiBaHo keine Fördermittel mehr, Gerd wohnt außerhalb, musste seinen Handwerksbetrieb wegen Verschuldung aufgeben und sieht sich als Einzelkämpfer. Ständig kämpft er darum, dass der Hof erhalten bleiben kann, dafür, dass Kinder hier nach wie vor kostenlos spielen, toben, frei sein können. Seine Mitarbeiter sind Ein-Euro-Jobber. Er hat sich damit abgefunden, dass er offiziell nicht arbeitet. Die Kinder und Eltern merken tagsüber nichts von seinen Sorgen. Für die ist er der nette, fleißige „Herr Horn“. Damit Geld reinkommt, organisiert Gerd nebenher Kindergeburtstage: Tiere füttern, Ponyreiten, Heubodenspringen: „Es ist mörderanstrengend, jeden Tag Geburtstag feiern zu müssen.“
Desillusioniert gehen wir zum Baumhaus. Wir sitzen noch eine Weile draußen und gucken uns den „Supermoon“ an, der über das benachbarte Naturschutzgebiet und die Plattenbausiedlung strahlt – so nah wie heute ist der Mond der Erde nur selten. Gerd selbst ist öfter hier oben. Tagsüber zieht er sich manchmal eine halbe Stunde zurück. Wenn es später wird, übernachtet er auch hier.
Wir erschlagen ein paar Schnaken, frieren ein bisschen und können irgendwann trotz Windrauschen und wackelndem Boden einschlafen. Morgens um sieben weckt uns der Schrei eines Esels und dann müssen wir schnell duschen und frühstücken, bevor die Kinderhorde anrückt.
Gerd träumt davon, dass der Bauernhof ohne ihn funktioniert. Aber irgendwie haben sich alle daran gewöhnt, dass Gerd das alleine packt. Der KiBaHo läuft, ohne Fördermittel, ohne Hilfe. Als wir uns verabschieden, fragen wir uns, wie lange noch. Gerd sagt: In seinem jetzigen körperlichen Zustand maximal zwei Jahre.
Wo und was sollen die Crowdspondent-Reporterinnen in den nächsten Wochen recherchieren? An welchen ungewöhnlichen Orten könnten und sollten sie dabei übernachten? Schickt sie schlafen! Hier in den Kommentaren oder per jetzt-Botschaft, oder per Facebook, Twitter oder crowdspondent.de.
In der Natur schlafen, hach wie schön. Und ein Bauernhof, das muss ja idyllisch werden. Oder nicht? Der Kinderbauernhof Kirchdorf e.V. (KiBaHo) liegt in einem sozialen Brennpunkt. Baumhaus plus Bauernhof liegen direkt neben einer großen Plattenbausiedlung.
Gerd auf der Leiter im gelb-blauen Haupthaus ist hier der Boss. Auf den ersten Blick sieht er fit und zufrieden aus. Erst in der Nacht werden wir erfahren, dass ihn die Arbeit hier in letzter Zeit oft traurig macht. Hühner, Gänse, Kinder und ein Schwein laufen über den Hof. Das Schwein nennt Gerd „Protestschwein“, es sollte eigentlich geschlachtet werden, er hat es gerettet. Mitarbeiter führen Pferde über die Wiese.
[plugin bildergalerielight Bild1="Der Kinderbauernhof in Hamburg-Wilhelmsburg" Bild4="Neben dem Bauernhof ragt eine Plattenbausiedlung in den Himmel" Bild2="Gerd, der Hof-Chef, rettet Tiere, zum Beispiel Papageien" Bild3="Lisa im Baumhaus" Bild5="Steffi im Baumhaus" Bild6="Der Mond ist der Erde in dieser Nacht besonders nah"]
Ein Junge hockt auf allen Vieren am Boden und beißt ins Gras. „Du musst jetzt hier kein Gras fressen“, sagt seine Mutter. „Aber ich bin doch ein Meerschweinchen.“ 50-60 Kinder kommen jeden Tag, um kostenlos Tiere zu streicheln und um wichtige Aufgaben zu erledigen. „Hey, Jana, hast du deinen Auftrag schon ausgeführt?“ ruft Gerd im Befehlston über den Hof. Auf dem KiBaHo gibt es ein Punktesystem: Für jede übernommene Aufgabe gibt es Punkte. Die Kinder können so Pflegschaften für Tiere übernehmen. Ab acht Punkten das Kaninchen. Die meisten wollen aber ein Pony. Dazwischen muss man erst die störrischen Ziegen überstehen. Jana ist noch im Kaninchen-Status. Sie soll die Tiere einsammeln, bevor es dunkel wird.
Währenddessen zeigt Gerd uns unsere Schlafstätte. Er hat das Baumhaus selbst gebaut. „Ich hab einfach ein Gartenhäuschen in die Bäume gesetzt.“ Das blaue Häuschen hat einen Minibalkon mit Geranien, zwei Fenster und ein paar Matten, auf denen wir schlafen werden. Baumhaus deluxe. Kostet aber auch 66 Euro pro Nacht.
Um 19 Uhr sind die meisten Kinder weg. Wir entdecken noch ein paar im Hühnerstall, die ihre Aufgabe „Eier einsammeln“ ernsthaft und bis zur letzten Minute verfolgen. Danach sind hier nur noch Gerd und die Tiere. Die meisten von ihnen haben eine schwierige Vergangenheit: Die Katze, die aussieht wie Garfield, hat keinen Schwanz mehr. Die Papageien wohnten vorher in zu kleinen Käfigen und können nicht mal fliegen. „Viele der Tiere sind Scheidungstiere“, sagt Gerd.
Abends wirkt er viel älter als tagsüber. Er nimmt sein Headset ab. Er ist 59 Jahre alt, seit 27 Jahren arbeitet er hier. Letzte Woche 93 Stunden. Geld bekomme er dafür nicht, erzählt er uns. Er ist langzeitarbeitslos. 1987 wohnte er noch selbst in Wilhelmsburg, hatte eine sechsköpfige Familie, einen Job als Elektromeister und viele andere Eltern als Mitstreiter, die gemeinsam einen Bauernhof aufbauen wollten, damit ihre Kinder die Natur kennenlernen. Damals bezuschusste die Stadt Hamburg das Projekt.
27 Jahre später erhält der KiBaHo keine Fördermittel mehr, Gerd wohnt außerhalb, musste seinen Handwerksbetrieb wegen Verschuldung aufgeben und sieht sich als Einzelkämpfer. Ständig kämpft er darum, dass der Hof erhalten bleiben kann, dafür, dass Kinder hier nach wie vor kostenlos spielen, toben, frei sein können. Seine Mitarbeiter sind Ein-Euro-Jobber. Er hat sich damit abgefunden, dass er offiziell nicht arbeitet. Die Kinder und Eltern merken tagsüber nichts von seinen Sorgen. Für die ist er der nette, fleißige „Herr Horn“. Damit Geld reinkommt, organisiert Gerd nebenher Kindergeburtstage: Tiere füttern, Ponyreiten, Heubodenspringen: „Es ist mörderanstrengend, jeden Tag Geburtstag feiern zu müssen.“
Desillusioniert gehen wir zum Baumhaus. Wir sitzen noch eine Weile draußen und gucken uns den „Supermoon“ an, der über das benachbarte Naturschutzgebiet und die Plattenbausiedlung strahlt – so nah wie heute ist der Mond der Erde nur selten. Gerd selbst ist öfter hier oben. Tagsüber zieht er sich manchmal eine halbe Stunde zurück. Wenn es später wird, übernachtet er auch hier.
Wir erschlagen ein paar Schnaken, frieren ein bisschen und können irgendwann trotz Windrauschen und wackelndem Boden einschlafen. Morgens um sieben weckt uns der Schrei eines Esels und dann müssen wir schnell duschen und frühstücken, bevor die Kinderhorde anrückt.
Gerd träumt davon, dass der Bauernhof ohne ihn funktioniert. Aber irgendwie haben sich alle daran gewöhnt, dass Gerd das alleine packt. Der KiBaHo läuft, ohne Fördermittel, ohne Hilfe. Als wir uns verabschieden, fragen wir uns, wie lange noch. Gerd sagt: In seinem jetzigen körperlichen Zustand maximal zwei Jahre.
Wo und was sollen die Crowdspondent-Reporterinnen in den nächsten Wochen recherchieren? An welchen ungewöhnlichen Orten könnten und sollten sie dabei übernachten? Schickt sie schlafen! Hier in den Kommentaren oder per jetzt-Botschaft, oder per Facebook, Twitter oder crowdspondent.de.