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Das Chlorhuhn

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Dem Chlorhuhn wohnt eine Paradoxie inne. Es ist dort, wo es gerade nicht hin soll: in aller Munde. Nackt, pickelig und gehandicapt hat es das Tier aus dem eiskalten, mit Chlorlösung versetzten Wasserbad amerikanischer Schlachthöfe bis an die Spitze der Bewegung geschafft. Es wurde zum Brandbeschleuniger der TTIP-Hysterie, zum Wappentier der Gegner des europäisch-amerikanischen Freihandelsabkommens. Wie ist es so weit gekommen?



Die Produktionsanlagen einer Geflügelschlachterei. "Chlorhühnchen" gruseln deutsche Verbraucher - sind aber auch ein Symbol des Widerstands

Eine Expedition ins Reich der Massentierhaltung ist aufschlussreich: Seit 1997 sichert ein Hühnchenembargo die Außengrenzen der EU. Seitdem schimpfen die Amerikaner über den europäischen Agrarprotektionismus. Interessiert hat das die Deutschen bisher kaum.

Bis dann vor einem Jahr ein kleintransportergroßes Gummihuhn vor dem Brandenburger Tor lag. Ein weiß gewandeter Aktivist übergoss es in einem symbolischen Akt mit nichtvorhandenem Chlor aus zwei Kanistern, verzierte es mit stilisierten Totenköpfen. Dass ein ganz ähnliches aufblasbares Hendl bereits ein halbes Jahr vorher bei einem Anti-Antibiotika-Protest zum Einsatz kam, tat dem kometenhaften Aufstieg des Chlorhuhns keinen Abbruch. Es wurde zu einem Symbol des Widerstands. Der Tatsache, dass das Huhn vor dem Brandenburger Tor aufblasbar war, wohnte, wie sich herausstellen sollte, eine tiefe Wahrheit inne.

Zunächst tauchte das Tier nur vereinzelt in der öffentlichen Debatte auf, bald aber fand das Chlorhuhn als Schlagwort in den kollektiven Wortschatz der Bundesbürger Eingang. Spätestens im Europa-Wahlkampf wurde es sehr gezielt eingesetzt, um Gegner des Abkommens zu mobilisieren. Schließlich hielt es seine nackten Flügel auch über andere TTIP-Themen von Investorenschutz bis zu sinkenden Sozialstandards. Das Chlorhuhn wurde zum Mythos. Vor allem weil die Menschen im Allgemeinen sehr verlässlich aufregt, was sie sich in den Mund stecken, von BSE-Fleisch über Genfood bis hin zu Zigaretten. Weil sie besonders hierzulande alles Künstliche und Chemische verabscheuen und sie deswegen Chlor am liebsten in blau gekachelten Hallenbädern belassen würden.

Dieses Misstrauen schlägt sich auch in Zahlen nieder: Einer Studie der Bertelsmann-Stiftung und des Pew Research Center zufolge vertrauen 94 Prozent der Deutschen europäischen Lebensmittelstandards, nur zwei Prozent amerikanischen. Im Fall des Chlorhuhns ist dieses Misstrauen nicht ganz unberechtigt. Zwar meinen Experten europäischer Lebensmittelbehörden, dass durch den Verzehr keine Gefahr für Leib und Leben besteht. Missstände gibt es schließlich auch in europäischen Hühnerställen, Stichwort Antibiotika. Aber das Beispiel USA zeigt, dass es in puncto Hygiene eben noch schlimmer gehen kann – was am Ende ein Chlorbad nötig macht.

So wurde das Huhn für die europäischen Gegner des Abkommens zum Sinnbild für die rücksichtslose Gewinnmaximierung der Fleischindustrie und einen rücksichtslosen amerikanischen Kulturimperialismus. Politiker nahmen das Tier dankbar in ihr Repertoire auf. Mantraartig beschworen sie die Rettung der Europäer vor fremdem Federvieh. Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel bezog Stellung: „Es wird keinen Import aus Amerika von Chlorhühnchen geben“, versprach sie (wie war das noch mit der Maut?). Doch irgendwann in den vergangenen Wochen überschritt das Symbol des Widerstands den Zenit. Es wurde erfolgreich als unlautere Waffe eines „Gutmenschen-Totalitarismus“ verunglimpft, und die Argumente der Kritiker wurden als „Chlorhähnchen-Keule“ abgetan. Dem Druck der PR-Schlacht ist das arme Huhn nicht gewachsen. So langsam geht ihm die Luft aus. 

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