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Flucht ohne Ausweg

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Schon wieder ein Krieg, der dritte in sechs Jahren. Als am 8. Juli die ersten Bomben auf den Gazastreifen fielen, hat sich Nor Abu Khater zu ihren Eltern geflüchtet. So hat sie das immer gemacht – 2008, 2012 und auch jetzt wieder. Immer wieder Ausnahmezustand, immer wieder Angst. Bei ihr sind zwei ihrer drei Kinder. Ihr Mann Mussa ist mit dem achtjährigen Sohn Kais zunächst in der kleinen Wohnung bei seinen Eltern geblieben, auch um die muss sich ja jemand kümmern.



Helles Leuchten: Das Artillerie-Feuer eines israelischen Geschützes, das den Gaza-Streifen beschießt

Nor Abu Khater ist 32 Jahre alt. Sie ist in Khan Junis geboren, doch aufgewachsen ist sie in Deutschland. In Münster ist sie zur Schule gegangen, von der ersten bis zur neunten Klasse. Zehn Jahre lebte sie mit ihren Eltern und Geschwistern als Flüchtlingskind in der Bundesrepublik, 1999 ist die Familie zurückgegangen in den Gazastreifen. Doch die Heimat ist für Nor Abu Khater immer noch in Westfalen. Sie spricht deutsch, sie denkt deutsch, sie träumt deutsch – und sie lebt ein Leben, das nicht ferner sein könnte vom Leben in Deutschland.

Vor knapp drei Jahren hat die SZ in einer Reportage über dieses Leben zwischen zwei Welten berichtet, seitdem ist der Kontakt nicht abgerissen. Wir haben Nor Abu Khater in ruhigen Zeiten besucht und in Zeiten des Krieges. Im November 2012 haben wir in diesem Wohnzimmer in Khan Junis gesessen, als draußen die Bomben fielen, und auch wieder im Juli 2014. Es war in den ersten Tagen der Kämpfe. Es war schlimm, furchterregend, doch es gab noch die Hoffnung, dass dieser Sturm vorüberzieht. Dann aber hat sich der Krieg festgefressen im Gazastreifen. Auf die Luftangriffe folgte ein zerstörerischer Bodenkrieg. Khan Junis ist eine der Hauptkampfzonen, die Stadt gilt als Hochburg der Hamas. Sie liegt im Süden des Gazastreifens, 25 Kilometer hinter Gaza-Stadt, gut zehn Kilometer vor der Grenze zu Ägypten.

Die fünfjährige Tochter Haja schmiegt sich angstvoll an die Mutter, auf deren Schoß liegt schreiend das zwei Monate alte Baby. Die Familie hat sich im kahlen Wohnzimmer in Khan Junis versammelt, es ist Ramadan, und draußen hört man die Einschläge. Am Telefon berichtet Nor Abu Khater fast täglich von neuen Katastrophen, von einer neuen Flucht und von der Angst, die sie überallhin verfolgt. Es sind die gehetzten, subjektiven Berichte aus einem Leben am Abgrund. Es ist ein kleiner Ausschnitt einer großen Katastrophe.

23. Juli: In Tel Aviv ist der Flughafen wegen der Raketengefahr lahmgelegt, US-Außenminister John Kerry ist auf Vermittlungsmission in Israel eingetroffen, und in Khan Junis werden die Kämpfe nur durch eine kurze, vom Roten Kreuz vermittelte Feuerpause unterbrochen, um die Verletz-ten zu bergen.
„Gestern waren wir kurz bei unserer Wohnung im Haus meiner Schwiegereltern. Nebenan ist eine Rakete eingeschlagen. Auch unser Haus ist beschädigt worden, doch Wände kann man reparieren. Ich bete nur, dass es nicht noch einmal getroffen wird. Wo sollen wir denn sonst leben?

Jetzt sind wir wieder bei meinen Eltern. Wir trauen uns nicht mehr rauszugehen. Mein Vater stand in der Tür, als ein Splitter ganz knapp an seinem Kopf vorbeigeflogen ist. Ich habe ihm gesagt, du hast viel Glück gehabt. Die Splitter sind sehr scharf, da ist man auf der Stelle tot.
Jeder sagt, so einen Krieg haben wir hier noch nie erlebt. Die israelischen Panzer stehen nur ein paar Hundert Meter weg. Von unserem Fenster aus können wir sehen, wie Häuser brennen. Die letzte Nacht war schlimm. Eine Rakete nach der anderen. Immer nachts kommt die große Angst.
Gleich ist der Akku vom Handy leer. Wir können ihn kaum noch aufladen. Gestern Abend gab es für drei Stunden Strom. Seitdem warten wir wieder darauf.“

24. Juli: Das Telefon ist tot, kein Strom in Gaza, dafür heftige Kämpfe.

25. Juli: Die Zahl der Toten ist nach palästinensischen Angaben auf mehr als 800 gestiegen, mehr als 5000 Menschen sind verletzt. Am Abend lehnt das israelische Sicherheitskabinett den Kerry-Plan für eine siebentägige Waffenruhe ab. „Es ist, wie es ist, nichts hat sich geändert. Gestern hat uns Mussa abgeholt und zu seinem Onkel gebracht. Aber ich habe es dort nicht ausgehalten, bei meinen Eltern fühle ich mich wohler. Mittlerweile ist es hier allerdings sehr eng. Meine Schwester ist da mit ihrer Familie, und auch eine Cousine. Ich bin krank und weiß nicht, was es ist. Ich habe totale Schmerzen in der Lunge und spucke die ganze Zeit Blut. Aber was mich wirklich krank macht, ist die Angst. Ich bin körperlich, geistig und seelisch völlig fertig von dieser Angst.
Viele Verwandte sind schon ums Leben gekommen, eine Cousine, auch die Tante von meinem Mann. Ich habe die Toten nicht mehr gezählt. Meine Mutter sagt, wahrscheinlich kommen wir morgen oder übermorgen dran.“

26. Juli: Nach dem Scheitern des Kerry-Plans haben sich Israel und die Hamas wenigstens zu einer zwölfstündigen „humanitären Waffenruhe“ bereit erklärt. Zum ersten Mal seit Tagen trauen sich die Menschen aus ihren Häusern.

„Mussa ist mit den Kindern draußen gewesen. Er hat Obst gekauft, Milch und Windeln, Lebensmittel für insgesamt 300 Schekel. Wir wissen ja nicht, wie es weitergeht und wann wir wieder rauskommen.
Jetzt sitzen wir alle in einem Zimmer und warten, dass es Abend wird. Zwölf Stunden lang ist es ruhig - oh Gott, und was wird danach kommen? Ich habe so ein starkes Gefühl, dass heute etwas passiert. Den Kindern habe ich gesagt, sie sollen mittags viel schlafen, damit wir nachts schnell weg können, wenn es sein muss.

Die Nachbarn haben von den Israelis eine Warnung bekommen, dass ihr Haus zerstört wird. Das sind fünf Stockwerke, da kriegen wir auch was ab. Seit drei Wochen leben wir wie in einem Gefängnis. Du darfst nicht denken, dass die Menschen hier Krieg wollen. Die wollen nur Ruhe und Frieden.“

27. Juli: Der Waffenstillstand bricht am Abend zusammen, als die Hamas eine Raketensalve auf Israel abfeuert. Die Zahl der Toten steigt auf mehr als tausend.
Nor geht nicht ans Telefon.

28. Juli: Es ist das Ende des Fastenmonats Ramadan. Überall in der muslimischen Welt wird Eid-al-Fitr gefeiert, das Fest des Fastenbrechens. In Gaza bleibt keine Zeit zum Feiern. Es gibt viele Tote auf beiden Seiten. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu kündigt einen „langen Feldzug“ an.

„Bekannte von uns sind von einer Rakete abgeschossen worden. Mein Bruder ist gerade zu ihrem Haus unterwegs. Im Radio haben wir gehört, dass auch ein Park beschossen worden ist. Zehn Tote soll es geben, die meisten Kinder. Ich hätte nie gedacht, dass ich bei so einem Fest morgens aufstehe und weinen muss. Wir warten das ganze Jahr auf diesen Tag, auch die Kinder, das ist für uns wie Weihnachten. Aber wie sollen wir uns freuen, wenn so viele gestorben sind. Nirgends gibt es hier Freude.

Mussa ist nach dem Morgengebet zu seiner Familie gegangen. Ich habe mich nicht getraut, mitzugehen. Kais traut sich nicht mal mehr auf den Balkon.“

29. Juli: Der schlimmste Tag des Krieges fordert im Gazastreifen nach Angaben der dortigen Behörden mehr als einhundert Tote. Auch das einzige Kraftwerk wird in Brand geschossen, die Stromversorgung wird noch prekärer. Mehr als 100000 Menschen haben in Einrichtungen der UN Schutz gesucht.
Nor antwortet nicht.

30. Juli: Wieder wird eine Schule der UN beschossen, die voll ist mit Flüchtlingen, mindestens 16 Menschen sterben. Ein Blutbad mit 15 Toten und 160 Verletzten gibt es auch nach Artilleriebeschuss auf einen Markt in Gaza-Stadt.

„Gestern mussten wir aus unserem Haus flüchten. Die Israelis haben Flugblätter ab-geworfen, dass wir so schnell wie möglich weg sollen. Ich weiß nicht, wie es meiner Familie geht. Jeder ist irgendwo anders, keiner weiß, wo der andere ist. Wir sind jetzt bei Fremden und haben um Hilfe gebeten. Ich weiß nicht mal, wo wir genau sind. Mussa meint, hier sind wir sicher. Einen Tag dürfen wir bleiben. Es sind 50 Leute hier, wir schlafen auf dem Boden. Es gibt fast nichts zu essen und zu trinken. Jeden Tag wird es nur noch schlimmer.

Du kannst dir nicht vorstellen, wie schlecht es uns geht. Die Kinder schreien die ganze Zeit. Ich weiß nicht mehr, wie ich das durchhalten soll. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich will jetzt sterben.“

31. Juli: Israel mobilisiert 16000 weitere Reservisten und kündigt eine Ausweitung des Kriegs an.
Nor ist nicht zu erreichen.

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