Ich glaube, es war in der elften Jahrgangsstufe, als Dose zu uns in die Klasse kam. Ich hatte immer gedacht, Dose sei sein Nachname. Als die Lehrerin jetzt seinen wirklichen Nachnamen von der Klassenliste ablas und er sich meldete, erfuhr ich, dass dem nicht so war. Er erklärte mir später, Dose sei sein Spitzname, weil es eine Phase in seinem Leben gegeben habe, in der er sehr viel Dosenbier getrunken habe. Ich war sehr beeindruckt. Vom Dosenbier, und auch von seiner Formulierung – „eine Phase in meinem Leben“. Das klang sehr erwachsen. Als ich das nächste Mal mit meiner Clique an den See ging, packte ich Dosenbier ein. Die Mädchen fanden das gut.
Schon an diesem ersten Tag habe ich also etwas von Dose gelernt. Zugegeben, es war keine der Premiumlektionen meines Lebens. Aber in der zehnten Klasse war ich über jedes Quantum Eindruck, das ich bei Mädchen machen konnte, sehr froh.
Keine Ahnung, ob alle Klassenältesten so cool aussahen. Aber man konnte einiges von ihnen lernen.
Dose war drei oder sogar vier Jahre älter als der Rest der Klasse. Er war zwei Mal sitzengeblieben, außerdem hatte er noch ein Schuljahr verloren, weil er ein Jahr in den USA gewesen war. Dose war eine Bereicherung für unsere Klasse. Vielleicht nicht, was unsere Fähigkeiten in Kurvendiskussionen anging. Aber von Dose konnte man viel über das Leben lernen.
Ich erzähle das, weil gerade wieder eine Diskussion beginnt, die schon oft geführt wurde und wohl noch oft geführt werden wird. Am Dienstag werden in Bayern Zeugnisse verteilt. Auf circa 30.000 dieser Zeugnisse wird Schätzungen zufolge zu lesen sein, dass der Schüler das Klassenziel nicht erreicht hat. Klaus Wenzel, Präsident des Bayerischen Lehrerverbands, plädierte am Wochenende dafür, das Durchfallen komplett abzuschaffen. Wenzel hat gute Argumente im Gepäck, seine Gegner auch. Wer Recht hat, soll hier nicht beurteilt werden. Fakt ist: Könnte niemand mehr durchfallen, wäre das komplizierte Theater Klassengemeinschaft um eine Rolle ärmer. Es gäbe es keine Leute wie Dose mehr: die Klassenältesten, die mehrmals ein Jahr wiederholt haben und drei Jahre älter sind.
Denn wenn man ein Teenager ist, sind drei Jahre ein ziemlich großer Unterschied. Man spricht als 15-jähriger nicht mit einem 18-Jährigen aus der Kollegstufe, es sei denn, der hat einem den Turnbeutel weggenommen und man bettelt um Rückgabe. Mit dem Klassenältesten aber ist plötzlich jeden Tag einer aus dieser fremden Gruppe der Älteren da. Er ist das Bindeglied in deren Welt, er hilft einem über unsichtbare Grenzen hinweg. Auf dem Schulfest kann man neben ihm stehen, wenn er mit dem Mädchen spricht, das zwei Klassen über einem ist – und vielleicht auch für einen Moment ihr Interesse wecken. Wenn man mit ihm am Kiosk steht, wird man nicht sofort von den breitschultrigen Jungs aus der Oberstufe weggedrängt. Der Klassenälteste weiß, wie man den Kronkorken des Paulanerspezi mit einem Textmarker bis an die Decke schießen kann. Er darf schon bei der Bundestagswahl wählen. Er fährt mit dem Auto vor der Schule vor, wenn man selbst noch auf den ersten Roller spart. Er erzählt von einem Freund, der begeistert von seinem Medizinstudium ist, wenn man selbst gerade mal damit begonnen hat, sich über die Wahl der Leistungskurse in der Oberstufe Gedanken zu machen.
Das alles sagt natürlich nichts darüber aus, ob der Klassenälteste wirklich so ein toller Hund war. Wahrscheinlich war er nicht immer die Hilfsbereitschaft in Person und gab jeden Tag Unterricht in Coolness. Und ganz sicher gab es unter den mehrfach Durchgefallenen auch viele, die vor allem faule und eher traurige Gestalten waren. Aber selbst von denen konnte man was lernen, einfach weil sie drei Jahre älter waren. Sie wussten und durften schon so viel mehr, dass es schon reichte, sie um sich zu haben und zu beobachten. Sie zeigten einem jeden Tag, was für einen Unterschied drei Jahre machen können. Was einen in der eigenen Zukunft erwartet. An Gutem und an Schlechtem.
Schon an diesem ersten Tag habe ich also etwas von Dose gelernt. Zugegeben, es war keine der Premiumlektionen meines Lebens. Aber in der zehnten Klasse war ich über jedes Quantum Eindruck, das ich bei Mädchen machen konnte, sehr froh.
Keine Ahnung, ob alle Klassenältesten so cool aussahen. Aber man konnte einiges von ihnen lernen.
Dose war drei oder sogar vier Jahre älter als der Rest der Klasse. Er war zwei Mal sitzengeblieben, außerdem hatte er noch ein Schuljahr verloren, weil er ein Jahr in den USA gewesen war. Dose war eine Bereicherung für unsere Klasse. Vielleicht nicht, was unsere Fähigkeiten in Kurvendiskussionen anging. Aber von Dose konnte man viel über das Leben lernen.
Ich erzähle das, weil gerade wieder eine Diskussion beginnt, die schon oft geführt wurde und wohl noch oft geführt werden wird. Am Dienstag werden in Bayern Zeugnisse verteilt. Auf circa 30.000 dieser Zeugnisse wird Schätzungen zufolge zu lesen sein, dass der Schüler das Klassenziel nicht erreicht hat. Klaus Wenzel, Präsident des Bayerischen Lehrerverbands, plädierte am Wochenende dafür, das Durchfallen komplett abzuschaffen. Wenzel hat gute Argumente im Gepäck, seine Gegner auch. Wer Recht hat, soll hier nicht beurteilt werden. Fakt ist: Könnte niemand mehr durchfallen, wäre das komplizierte Theater Klassengemeinschaft um eine Rolle ärmer. Es gäbe es keine Leute wie Dose mehr: die Klassenältesten, die mehrmals ein Jahr wiederholt haben und drei Jahre älter sind.
Denn wenn man ein Teenager ist, sind drei Jahre ein ziemlich großer Unterschied. Man spricht als 15-jähriger nicht mit einem 18-Jährigen aus der Kollegstufe, es sei denn, der hat einem den Turnbeutel weggenommen und man bettelt um Rückgabe. Mit dem Klassenältesten aber ist plötzlich jeden Tag einer aus dieser fremden Gruppe der Älteren da. Er ist das Bindeglied in deren Welt, er hilft einem über unsichtbare Grenzen hinweg. Auf dem Schulfest kann man neben ihm stehen, wenn er mit dem Mädchen spricht, das zwei Klassen über einem ist – und vielleicht auch für einen Moment ihr Interesse wecken. Wenn man mit ihm am Kiosk steht, wird man nicht sofort von den breitschultrigen Jungs aus der Oberstufe weggedrängt. Der Klassenälteste weiß, wie man den Kronkorken des Paulanerspezi mit einem Textmarker bis an die Decke schießen kann. Er darf schon bei der Bundestagswahl wählen. Er fährt mit dem Auto vor der Schule vor, wenn man selbst noch auf den ersten Roller spart. Er erzählt von einem Freund, der begeistert von seinem Medizinstudium ist, wenn man selbst gerade mal damit begonnen hat, sich über die Wahl der Leistungskurse in der Oberstufe Gedanken zu machen.
Das alles sagt natürlich nichts darüber aus, ob der Klassenälteste wirklich so ein toller Hund war. Wahrscheinlich war er nicht immer die Hilfsbereitschaft in Person und gab jeden Tag Unterricht in Coolness. Und ganz sicher gab es unter den mehrfach Durchgefallenen auch viele, die vor allem faule und eher traurige Gestalten waren. Aber selbst von denen konnte man was lernen, einfach weil sie drei Jahre älter waren. Sie wussten und durften schon so viel mehr, dass es schon reichte, sie um sich zu haben und zu beobachten. Sie zeigten einem jeden Tag, was für einen Unterschied drei Jahre machen können. Was einen in der eigenen Zukunft erwartet. An Gutem und an Schlechtem.