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In die Tasche gesteckt

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Morgens, wenn der Strom der Mitarbeiter sich auf dem Weg durch den grauen Betontunnel von der S-Bahn zum SZ-Hochhaus erst zur Schlange dehnt und schließlich an der roten Fußgängerampel wieder zur Traube staut, erkennt man sie am besten. Einzeln, verstreut, wie zufällig hingetupft unter all den Anderen: Menschen mit leeren Händen und freien Schultern und Rücken. Menschen, deren Gang federnder, leichter  wirkt als der ihres Umfelds. Freier. Keine Tasche hemmt sie und kein Koffer. Und ich glaube, sie sind mächtig.

Wohl auch, weil sie selten sind und keine einheitliche Gruppe bilden. Weil man sie überall sehen kann und doch selten sieht. Wahrscheinlich hasse ich sie sogar, vielleicht beneide ich sie auch nur. In den schlimmsten Momenten halte ich sie für gefährlich. Die grausigsten Taten werden doch von den strukturiertesten Menschen begangen, oder? Und was sollen diese Menschen schon anderes sein als strukturiert? Manisch, fanatisch strukturiert! Und dazu genügsam.  



Wie machen die das?


Die Werbung lügt schließlich. Mich belügt sie zumindest. Wenn sie behauptet, alles würde immer einfacher und kompakter. Wenn sie sagt, man brauche nur noch ein Gerät für alles, weil das richtige Gerät schließlich alles könne. Was ja fast stimmt. Aber eben nur fast und dieses "Fast" ist die Crux. Das "Fast" bekämpft meinen Rücken. Das "Fast" füllt meine Tasche jeden Morgen mit scheinessentiellen Unwichtigkeiten.  

Einem iPad zum Beispiel, weil die Zeitung darauf doch übersichtlicher aussieht als auf dem iPhone – und das Internet auch. Mit einem zusätzlichen Buch, das ich gerade auf Papier lese, obwohl auf dem Tablet doch noch mindestens acht unberührt herumfliegen. Weil: Woher soll ich denn bitte morgens beim Losgehen wissen, wann ich abends heimkomme, und wie, und in welchem Zustand und was ich dann lesen oder hören will und was nicht?! Die Vorstellung jedenfalls, irgendwo zu Stranden und zwar ohne genug Lesestoff, Musik und Kommunikationsmittel für jede Stimmung und Lage, macht mich nervös. Eigentlich fast panisch. Ich behaupte, da ein Kind meiner Zeit zu sein.

Menschen ohne Tasche: beneidenswert freie Wesen, die peinigend in sich ruhen


Ebenso, wie bei der Unfähigkeit, Arbeit und Privates zu trennen. Ich trage ständig Arbeitskram von der Redaktion nach Hause ("Lese ich später noch schnell."), und wie zum Ausgleich Privatkram in die Redaktion ("Fülle das Versicherungsformular schnell noch aus, bevor der Stress richtig losgeht."), schicke mir halbfertige Dokumente von A nach B und vice versa und immer so weiter ohne dass das ehrlich Sinn oder wenigstens ein erkennbares Ende hätte.

Und das erklärt wenigstens das unklare Gefühl zwischen Neid und Hass. Weil man ja meist hasst, was man insgeheim beneidet. Und ich stelle mir Menschen ohne Tasche als beneidenswert freie Wesen vor, die peinigend in sich ruhen. Die eine 40-minütige Pendelfahrt ohne Buch und Kopfhörer überstehen, weil sie einfach nur sitzen können wie das Männchen im Loriot-Comic. Die offenbar wissen, was sie von morgens bis abends brauchen, weil Stimmungsschwankungen ihnen fremd sind. Die die Zeitung nicht noch eilig in der S-Bahn nach Informationen durchwühlen müssen, weil sie sie beim Frühstück (frisch gepresster Orangensaft!) schon ganz gelesen haben. Für die der Begriff "Work-Life-Balance" keinerlei Bedeutung hat, weil etwas gar nicht benannt werden muss, das sich ganz von selbst einpendelt. Dienst ist da Dienst und Schnaps ist Schnaps. Und wenn ich das denke, fühle ich mich klein und jung und schwach und mein Rücken tut gleich noch mehr weh.  

Also bin ich hin zu einem – ein eher entfernter Bekannter – und habe ihn gefragt, etwas gereizter wohl als man gemusst hätte: "Was kannst du, was ich nicht kann? Warum hast du keine Tasche dabei?! Ich halte dich für sehr mächtig." Der Typ sah mich an, mit einem Blick, mit dem man Kindern erklärt, warum sie ins Bett müssen, und stellte eine gandenlose Gegenfrage, die alle Befürchtungen bestätigte: "Was sollte ich denn unterwegs brauchen?"


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