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Alles endet in einer Melange aus Geschrei und Tränen

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Ob Felipão, der magie-beseelte Coach der Seleção, in der Nacht vorm Spiel noch ein falsches Orakel der Orishas befragt oder seine Aufstellung einfach aus dem Flug der Fledermäuse abgelesen hat, ist nicht bekannt. Tatsache ist, dass die Journalisten der großen Medien des Landes, vom Fernsehsender Globo bis zu São Paulos Qualitätsblättern, alle mächtig sauer waren auf Felipe Scolari, als sie kurz vor Spielbeginn dessen taktische Rochade fürs Halbfinale erfuhren: Nicht Willian spielte, der gesetzte Ersatzmann für den verletzten Neymar, auch Paulinho schickte der Coach nicht aufs Feld – sondern Bernard. Einen Stürmer, der wie ein Schulbub auf Stress-Situationen reagiert.



Schweinsteiger umarmt die Brasilien-Spieler Dante und Luiz nach dem Halbfinale der WM.

Felipão wählte, entgegen seiner Natur, also die offensive Variante. Flucht nach vorne gegen Deutschland, mit den Außen- stürmern Bernard und Hulk, die zweierlei zu tun hatten: Den spielstarken Kapitän Philipp Lahm auf der rechten Seite ausschalten, der es nicht mag, wenn ihm ständig einer auf den Füßen steht – und auf der linken Seite die statistische Schwachstelle des Gegners aufbohren, denn über Benedikt Höwedes Seite hatte die DFB-Auswahl zuvor ihre drei WM-Gegentore kassiert.

Die Aufgaben waren klar verteilt: Hulk markierte Lahm, Bernard lauerte auf der rechten Seite, beide sollten mit langen Bällen aus der Abwehr auf die Reise geschickt werden. Das war zwangsläufig Teil dieser Harakiri-Strategie, in Ermangelung von pass- und ballsicheren Mittelfeldspielern galt es, diesen Bereich möglichst schnell und schlicht zu durchqueren.

Doch es war sofort klar: Hier würde nichts funktionieren. Neymar, den die Zuschauer mit Sprechchören feierten, er fehlte an allen Ecken und Enden. Diese Seleção, von Scolari mit höchstem Risiko als reines Funktionsteam um Ausnahmespieler Neymar herum konzipiert, war ohne den Dreh- und Angelpunkt völlig orientierungslos, und Bernard, der Überraschungsgast in der Stammformation, wirkte wie einer aus der Schülerelf, der ausnahmsweise mal bei den Großen mitspielen durfte.

Er hatte den Ball noch kaum berührt, als es schon 0:5 stand. Die Fans auf den Rängen, die kleinen wie die großen, weinten hemmungslos, das Desaster auf dem Rasen verfolgten sie trotzdem tapfer weiter: Die Demütigung der WM-Nation, die Horrornacht des brasilianischen Fußballs. Der Tag, der das Trauma von Maracanazo vergessen machte, die 1:2-Niederlage gegen Uruguay bei der WM 1950 im eigenen Land, als der Titel verloren ging. Ja, Maracanazo ist seit gestern Nacht vergessen – dass es durch ein noch viel größeres Trauma ersetzt wurde, dürfte die Stimmung im WM-Land über die letzten Tage trüben. Scolari, der sonst wie ein Tiger in seinem Trainergeviert kreist und die Seleção in Kommandantenpose durchs Spiel zu steuern pflegte, er sah jetzt mit schlaff hängenden Schultern zu, ein Rentner, der sich an den Spielfeldrand verirrt hatte.

Scolari hatte alles falsch gemacht. Diese Botschaft ging von David Luiz aus, dem neuen Kapitän, der mit dem Gelb-gesperrten Thiago Silva bisher bei der WM ja eine unüberwindbare Innenverteidigung gebildet hatte. Das Stellungsspiel war seine Stärke nie, nun hatte er statt Silva den Kollegen Dante an der Seite, ausgestattet mit null Minuten WM-Erfahrung. Und während David Luiz, heillos übermotiviert im Glauben, er müsse hier alle Positionen gleichzeitig spielen, wie ein Derwisch übers Spielfeld flatterte, wird sich der Bayern-Verteidiger hinten wie bei einem Hallen-Kick vorgekommen sein: Allein gegen drei, vier Deutsche, die sich noch am Elfmeterpunkt freistehend den Ball zuschieben konnten. Als Scolaris Kahn absoff, war der Kapitän als Erster über Bord gegangen.

Die Seleção wurde nach der Pause mit Pfiffen empfangen, viele Gesichter spiegelten nackte Angst wider. Doch Scolari hatte sie noch einmal erreichen können, mit Paulinho und Ramires für Hulk und Fernandinho rannten sie los. Oscar, Paulinho und Fred hatten plötzlich beste Chancen, schossen aber sichtlich entnervt immerzu den großartigen Keeper Neuer an. Nach einer Stunde hatten die Fans genug: „Fred, du Arsch, hau ab!“, dröhnte es von den Rängen im Estádio Mineirão, hier, wo Brasiliens unglücklicher Mittelstürmer seine Wurzeln hat. Jeder Ballkontakt Freds wurde fortan ausgebuht. Und als auf der Stadionleinwand Ronaldo auftauchte, das Gesicht des WM-Komitees und der bisherige WM-Schützenkönig, der den Titel hier an Klose verlor, setzte ein Gezeter ein, als habe sich Sepp Blatter in der Loge erhoben.

Die Fans kamen kaum zu Atem. Beim 0:6 winkte Scolari flott Fred vom Platz, vergebens – er erhielt ein Schlusskonzert , das den Frustrierten fast in den Rasen drückte. Dass Willian, der Neue, den alle von Beginn an erwartet hatten, noch ein paar brauchbare Spielzüge inszenierte, wirkte wie letzter Hohn auf Scolaris intuitiv angerichteten Spielersalat. Der vorletzte Hohn: Schürrles 0:7 bejubelten die gelben Fans demonstrativ. Wie beim Stierkampf wurde jede Ballstafette der Gäste beklatscht.

Als es vorbei war, versammelte Scolari seine weinenden Jungs am Mittelkreis, inmitten donnernder Buhrufe. Alles endete in einer Melange aus Geschrei und Tränen. Es ist was passiert, das weit, sehr weit über die Nacht hinausreichen wird. Und ins ganze Land.

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