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Ende der Drohungen

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Berlin – Es ist wieder ruhig in Berlin-Kreuzberg. Die Cafés rund um die Ohlauer Straße haben geöffnet an diesem sonnigen Donnerstag, der Spielplatz ist gut besucht, die gelben Doppeldeckerbusse fahren. Nur vor der Gerhart-Hauptmann-Schule lässt sich noch der Ausnahmezustand erahnen, in dem sich das Viertel befand, nachdem der Bezirk Dienstag vor einer Woche beschlossen hatte, das von Flüchtlingen besetzte Gebäude räumen zu lassen und bis zu 1700 Polizisten ganze Straßenzüge abgeriegelt hatten. Direkt vor der Einfahrt stehen zahlreiche Polizeifahrzeuge, rundherum liegen Leute auf Isomatten, sie haben auf dem Bürgersteig die Nacht verbracht.



Fast ist Normalität eingekehrt vor der Gerhart-Hauptmann-Schule.

Die war noch mal ziemlich turbulent. Vertreter des Bezirks, Politiker und Anwälte gingen ein und aus, um mit den etwa vierzig Bewohnern zu verhandeln, die sich in der Schule verschanzt hatten. Die Flüchtlinge drohten, vom Dach zu springen, die Berliner Polizei wiederum drohte abzuziehen, wenn die Schule nicht geräumt werden könne. Papiere wurden beschrieben, wieder verworfen, es wurde hin und her telefoniert. An den Absperrungen versammelten sich Demonstranten und Anwohner, machten Picknick, hielten Transparente, vom Dach der Schule kam Musik. Am späten Abend dann traten einige Bewohner vor die Schule, um ein Kompromisspapier zu unterschreiben. Ein Mann sagte: „Wir reichen der Politik die Hand. Wir sind müde und wir unterschreiben unter Druck.“ Die Polizei zog daraufhin ab, die Bewohner dürfen bleiben, in einem Bereich in der dritten Etage. Sie bekommen Hausausweise. Hinein darf niemand mehr, das Gebäude soll zu einem „Internationalen Flüchtlingszentrum“ umgebaut werden, für 70 Leute mit ungeklärtem Status.

Die lange Geschichte der Gerhart-Hauptmann-Schule begann 2012, als Flüchtlinge aus Würzburg nach Berlin kamen, um zu protestieren. Gegen das deutsche Asylrecht, etwa die Residenzpflicht, die Flüchtlinge während ihrer Asylverfahren an einen bestimmten Ort bindet. Die Flüchtlinge schlugen ein Camp auf dem Kreuzberger Oranienplatz auf, ein anderer Teil besetzte die Schule. Der von den Grünen regierte Bezirk ließ sie gewähren, der Berliner Senat handelte mit den Campern eine Einigung aus, worauf der Oranienplatz geräumt wurde. In der Gerhart-Hauptmann-Schule war die Lage komplizierter, denn es kamen immer mehr Leute in das Gebäude, die mit dem Protest nichts zu tun hatten, phasenweise waren es 500, darunter Roma-Familien, Obdachlose. Die Zustände wurden unhaltbar, als ein junger Marokkaner bei einem Streit um die einzige Dusche erstochen wurde.

Eine weitere Auseinandersetzung beschäftigte bis Mittwoch das Berliner Landgericht. Ein 19-jähriger Bewohner, der einem anderen jungen Mann in der provisorischen Küche mit einem Messer in den Rücken gestochen hatte, wurde freigesprochen. Die Richter konnten nicht ausschließen, dass er in Notwehr gehandelt habe.

Im politischen Berlin gehen die Meinungen über den Kompromiss am Donnerstag auseinander. Während sich der Bezirk zufrieden zeigt, wird den Grünen von anderer Seite unverantwortliches Handeln vorgeworfen. Die Flüchtlinge selbst sind ebenfalls nicht zufrieden, sie fordern ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland. Unterstützung kommt aus dem Kulturbetrieb. In einem offenen Brief, den etwa Johan Simons, der Intendant der Münchner Kammerspiele, die Choreografin Sasha Waltz oder der Regisseur René Pollesch unterzeichneten, ist von „empörenden Zuständen der deutschen Flüchtlingspolitik“ und der „skandalöse Abwesenheit einer deutschen Einwanderungspolitik“ die Rede.

Aus der leeren Gerhart-Hauptmann-Schule tritt indessen einer der letzten Bewohner und guckt durch den Zaun. Davor steht eine junge Frau, die seit Monaten zur Schule kommt, weil sie „selbst betroffen“ sei, wie sie sagt. Sie ist in Berlin aufgewachsen, aber ohne Vater. Der wurde nach Ghana abgeschoben, als sie ein Kleinkind war. Eine Diskussion entspinnt sich, über Flüchtlinge, Lampedusa, Europa. Ein zerfetztes Transparent flattert im Sommerwind, demnächst beginnen hier die Aufräumarbeiten. Und aufzuräumen gibt es einiges rund um die Schule, die zu einem Symbol wurde. Dafür, was passiert, wenn globale Probleme die Kommunen erreichen.

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