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Istanbul. Das Wahlkampf-Logo der türkischen Regierungspartei AKP ist ein Tunnel – das Licht an seinem Ende ist Recep Tayyip Erdoğan. Die islamisch-konservative Partei rief am Dienstag ihren Gründer und Vorsitzenden zum Kandidaten für die Präsidentschaftswahl aus und präsentierte Erdoğan wie einen Erlöser.



Der Premier Erdoğan ist ein Fan von großen Auftritten - und tritt zur Präsidentschaftswahl an.

Der Premier begann seine Rede vor rund 4000 jubelnden Anhängern mit der Anrufung Allahs und beendete sie auch mit einem Gebet. „Wir sind für Allah in die Politik gegangen, wir sind für das Volk in die Politik gegangen.“ Die Türkei, so erklärte Erdoğan in seinem einstündigen Auftritt, werde mit einem direkt vom Volk gewählten Präsidenten „stärker werden“, er werde eine „neue Türkei bauen“. Den von den zwei größten Oppositionsparteien aufgestellten Gegenkandidaten Ekmeleddin Ihsanoğlu, 70, einen konservativen, muslimischen Intellektuellen, nannte er einen „Statisten“. Seinen Widersachern hielt Erdoğan entgegen: „Wir sind die Nation, wer seid ihr?“

Erdoğan ließ keinen Zweifel daran, dass er davon ausgeht, die erste Volkswahl eines türkischen Präsidenten zu gewinnen. Umfragen mehrerer Institute, die am Dienstag veröffentlicht wurden, sagen einen Sieg des 60-Jährigen bereits in der ersten Runde voraus, allerdings nur mit einer knappen Mehrheit von 51 bis 54 Prozent. Erreicht kein Kandidat am 10.August mehr als die Hälfte der Stimmen, gibt es am 24.August eine Stichwahl.

Die Kurdenpartei HDP hat ebenfalls einen Bewerber aufgestellt, ihren Parteichef Selahattin Demirtaş. Der 41-Jährige dürfte nach Meinung des Massenblattes Hürriyet auch Stimmen von Linken, Aleviten – auch aus dem Ausland – bekommen, denen Ihsanoğlu „zu religiös“ ist und die mit dem neuen Wahlbündnis von republikanischer CHP und rechtsnationaler MHP nicht einverstanden sind.
Sollte es zu einer zweiten Wahlrunde kommen, dürften die Kurden zum Zünglein an der Waage werden. Erst vor wenigen Tagen hat die AKP ein neues Gesetzespaket angekündigt, mit dem sie offen um die Unterstützung der Kurden wirbt. Darin wird Anhängern der kurdischen Guerilla PKK die Rückkehr zu ihren Familien in Aussicht gestellt.

Die Volkswahl des Präsidenten hat erst eine 2010 von Erdoğan in Gang gesetzte Verfassungsänderung ermöglicht. Gleichzeitig wurde die Amtszeit von sieben auf fünf Jahre reduziert. Zwei Perioden sind möglich. Erdoğan könnte damit theoretisch bis zum 100-jährigen Jubiläum der Republik 2023 amtieren. „Unsere Vision und unsere Ziele für 2023 werden machbarer“, sagte er am Dienstag in seiner Rede. Laut Verfassung darf der Präsident keiner Partei angehören. Yalçın Akdoğan, ein Berater Erdoğans, stellte in der Zeitung Star aber klar: Die AKP werde einen neuen Vorsitzenden erhalten, der „Anführer der Bewegung“ aber bleibe Erdoğan.

Der Wahlkampfsong der AKP hat einen Refrain: „Recep Tayyip Erdoğan“. Im Text wird der Kandidat als „Mann des Volkes“ und „Albtraum der Schurken“ besungen. Ein minutenlanges Video, das bei der Nominierungsfeier präsentiert wurde, zeigt Erdoğans Karriere im Zeitraffer: Kindheit in einem Istanbuler Armenviertel, die Versuche, Profifußballer zu werden. Dann als Bürgermeister von Istanbul, mit Vorliebe bei der Einweihung neuer Straßen, als Premier und Wahlkampfredner vor jubelnden Massen und dazwischen, auffallend kurz, bei Auslandsbesuchen. Gattin Emine Erdoğan saß in der ersten Reihe des bis auf den letzten Platz gefüllten Saales und wischte sich sichtlich gerührt die Augen.

Abdullah Gül hingegen, der amtierende Präsident, fehlte bei der Erdoğan-Show. Er hat die AKP mit Erdoğan im August 2001 gegründet, als Präsident musste er sie verlassen. Erst vor zwei Tagen ließ Gül wissen, dass er nicht ein zweites Mal für das höchste Staatsamt kandidieren werde.

Über Güls Zukunft ist offiziell nichts bekannt. Mehrmals hatten sich Gül und Erdoğan in den vergangenen Wochen getroffen. Türkische Medien berichteten einmal, Gül werde den Parteivorsitz übernehmen; dann hieß es wieder, Erdoğan wolle Gül verdrängen, um einen gefügigen Nachfolger zu finden. Gül hat zwar alle umstrittenen Gesetze der Regierung unterzeichnet, einschließlich der neuen Internetkontrollen. Aber er hat sich auch mehrmals kritisch geäußert, beispielsweise gegen das Twitter- und Youtube-Verbot, das Erdoğan durchgesetzt hatte. Erst vom Verfassungsgericht wurde es wieder aufgehoben.

Am 28.August wird der neue Präsident seinen Eid ablegen. Danach wird nach geltendem Recht zunächst Erdoğans Vize Mehmet Ali Şahin Parteichef, bis zu einem Parteitag der AKP. Die Regierungsgeschäfte übernimmt Vizepremier Bülent Arınç, bis der neue Präsident einen Regierungschef ernennt. Der Präsident ist laut Verfassung auch Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats, er kann das Parlament auflösen und sogar, wenn er es für nötig erhält, den Vorsitz des Kabinetts übernehmen.

Es ist bekannt, dass Erdoğan die Rechte des Präsidenten noch ausweiten möchte. Ihm schwebt ein Präsidialsystem vor wie in den USA oder in Frankreich. Für eine Verfassungsänderung aber bräuchte die AKP im Parlament eine Zweidrittelmehrheit, die sie derzeit nicht hat, oder Verbündete. „Eine neue Verfassung ist unsere Priorität“, kündigte Erdoğan jetzt an.

In Twitter-Kommentaren kritisierten türkische Journalisten die „Ein-Mann-Show“ der AKP. Tufan Türenç nannte den Personenkult der Regierungspartei „geschmacklos“. Der Kommentator Alper Taş kritisierte Erdoğans großzügigen Gebrauch religiöser Formeln und meinte, „er versucht damit zu beweisen, dass er noch gläubiger ist als der Gegenkandidat Ihsanoğlu“.


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