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Enthüllung des Rechts

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Nichts schürt die Emotionen so zuverlässig wie ein Rechtsstreit um religiöse Symbole. 1995 schlitterte das Bundesverfassungsgericht in eine Krise, als es die Kruzifix-Pflicht in bayerischen Klassenzimmern kassierte. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sein Trauma mit dem Kreuz: Sein Urteil von 2009, mit dem er Kruzifixe in Klassenzimmern verbot, hatte in Italien einen Sturm der Entrüstung entfacht. Erst im zweiten Durchgang lenkte der Gerichtshof ein und ließ die Kreuze hängen.



Zwei verschleierte Frauen in Offenbach.

Das Prinzip der maximalen Aufregung könnte den Menschenrechtsgerichtshof erneut treffen. An diesem Dienstag urteilt er über das Burka-Verbot in Frankreich, dem Land der erstarkten Rechtspopulisten. Das Gesetz stammt vom April 2011, Frankreich gab sich als Vorreiter im Kampf gegen den Schleier. Geklagt hat eine junge Französin – die sich laut ihrem Anwalt nicht unterdrückt fühlt. Sie habe sich freiwillig für die Verhüllung ihres Gesichts entschieden und trete leidenschaftlich „für die Republik“ ein.

Die Frage, ob muslimische Frauen sich verschleiert in der Öffentlichkeit bewegen dürfen, treibt die Politik europaweit um. 2011 hat Belgien ein Burka-Verbot erlassen, 2012 folgten die Niederlande; damals hatten die Rechtspopulisten Einfluss auf die dann gescheiterte Minderheitsregierung. Auch Barcelona sowie der Schweizer Kanton Tessin haben den Vollschleier verboten, und in Italien gilt ein altes – seinerzeit nicht auf Muslime gemünztes – Vermummungsverbot in öffentlichen Einrichtungen.

Das französische Burka-Gesetz führt mitten in eine integrationspolitische Debatte. Dass die Vollverschleierung nicht gerade von gelungener Eingliederung in eine westliche Gesellschaft zeugt, darüber herrscht zwar weitgehend Einigkeit, nur: Darf man den Verzicht auf die Gesichtsverhüllung per Gesetz und Geldstrafe erzwingen? Noch dazu wenn es um eine winzige Minderheit geht: In Frankreich schätzt man, dass sich 2000 bis 4000 Frauen verschleiern wollen, in Belgien und den Niederlanden sollen es ein paar Hundert sein. In der Anhörung im November 2013 warf ein Richter die Frage auf: Dient das Burka-Verbot wirklich dem gesellschaftlichen Zusammenhalt? Oder verschärft es nicht eher soziale Spannungen?
Überhaupt schien die Verhandlung vor dem Straßburger Gerichtshof gegen die französische Regierung zu laufen. Zwar mühten sich Frankreichs Vertreter, nicht antimuslimisch zu klingen. Das unverhüllte Gesicht sei das „Vertrauensminimum“ , um „die Beziehungen zwischen menschlichen Wesen zu erhalten“.

Andererseits ist das angebliche Komplettverbot durch Ausnahmen durchlöchert, zum Beispiel zugunsten des Karnevals. Narren dürfen Masken tragen, Muslime nicht, kritisierte der Klägeranwalt.

Über Burkas hatte der Menschenrechtsgerichtshof bisher noch nicht zu entscheiden, wohl aber über Kopftuchverbote. Solche Gesetze hat er wiederholt gebilligt – allerdings galten sie auch nur für Schulen und Universitäten. Einen allgemeinen, nicht auf öffentliche Einrichtungen beschränkten Bann auf religiöse Kleidung hat er dagegen im Jahr 2010 verworfen. Doch damals ging es nur um Turban und Pluderhose, die Gesichter waren gut zu erkennen.

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