Tansania, M’tae. Inzwischen habe ich mich mindestens 367 Mal gedreht auf diesem Ding, das ich lieber nicht Matratze nenne. Ist auch arschkalt in dem Zimmer ohne Fensterglas und die Scheißdrecksmoskitostiche jucken. Vor allem aber: die Reis-mit-Bohnen-Zwangsdiät für Vegetarier bekommt mir nicht so gut. Sobald ich eingeschlafen bin, wache ich wieder auf, weil ich auf Toilette muss. Zum Glück habe ich die Stirnlampe, die mir Papa trotz heftiger Proteste am Tag vor dem Flug heimlich in den trekkingtauglichen Wanderrucksack geschmuggelt hat, denn hier gibt es keinen Strom. Meinen leeren Handyakku erwecke ich morgen in der kollektiven Landestation des Ortes zum Leben. Empfang werde ich trotzdem nicht haben, aber egal.
„Das ist halt das echte tansanische Leben. Richtig ursprünglich“, denke ich dann beim Benutzen der Wasserkellen-Klospülung. In meiner Euphorie spritze ich meine nackten Flipflop-Füße mit der trüben Flüssigkeit aus der niedrigen Schüssel voll.
Bei diesem Bild von Armut müssen manche Leute an politische und soziale Probleme denken. Andere würden stattdessen gerne einen Like-Button drücken.
Wenn ich meine Uhr zehn Monate zurückdrehe, befinde ich mich an einem der ärmsten Orte in dem für afrikanische Verhältnisse einigermaßen reichen Land. Und ich bin begeistert. „Karibu“, also "Willkommen", sagt man in ganz Tansania zusätzlich zum "Hallo" – und hier fühlt es sich nicht wie eine Floskel an. Ich probiere ein einfacheres, aber gleichzeitig härteres Leben aus. Und es scheint zu passen. Ja, ich bin zwischen Lehmhäusern und Wellblechdächern so glücklich wie lange nicht mehr. Obwohl ich mich gerne mal wieder bei meinen Freunden melden würde, unter chronischem Durchfall leide und über Rückenschmerzen jammere.
Wieder zurück im Jetzt scrolle ich in meinem Facebook Newsfeed über das obligatorische Wellblech-Foto aus dem Brasilienurlaub meiner Kommilitonin –27 Likes bekam sie dafür. „Wie kann man so ignorant mit einem Bild von Armut umgehen?“, denke ich wütend. Im nächsten Moment quält mich ein hartnäckiger Gedanke: „Hast du nicht selbst ein Bild von tansanischen Kindern mit Karies-Lächeln und abgewetzter Kleidung geteilt?“ Stimmt, habe ich. Plötzlich fühle ich mich ertappt – und muss mir ziemlich ungemütliche Fragen stellen: Zieht mich Armut irgendwie an? Und wenn ja, warum? Setzen wir mit unseren Reisen und Fotos denn nicht die Würde anderer Menschen herab?
Kritiker schreien jetzt: „Natürlich macht ihr das, ihr verzogenen Westkinder!“ Für Reisen in ärmere Gegenden haben sie Begriffe wie „Menschensafari“ oder „Armutspornografie“ parat. Tatsächlich erlebt die sehr fragwürdige Branche des Slumtourismus einen Boom wie einst der Ballermann. Kommerzielle Anbieter oder karitative Einrichtungen machen in Städten wie Rio de Janeiro, Kapstadt und Neu-Delhi mit geführten Touren durch Armenviertel richtig Geld. Dabei trampelt man teilweise zu zwanzigst in ein Zuhause, fotografiert hemmungslos in der Privatsphäre der Bewohner herum und ist fasziniert bis schockiert. Durch solche Exkursionen werden Familien oftmals als Opfer stilisiert und durch mitleidige Zooblicke entwürdigt. Genauso ignorant ist es, wenn wir Touristen die Slums als kulturelle Eigenheit mit einem gewissen fremdartigen Charme abstempeln. Schließlich sind sie ein politisches und soziales Problem. Wenn wir für Touren bezahlen, geben wir den Regierungen in Brasilien, Südafrika und anderswo Anreize, Armut nicht zu bekämpfen, sondern zu vermarkten.
Für die meisten Backpacker kommt organisierter Slumtourismus nicht in Frage, schließlich will man das fremde Land lieber auf eigene Faust erkunden. Ein gewisses Maß an Voyeurismus haben unsere Exkursionen in arme Gegenden aber auch an sich. Was gefällt uns also so an ihnen? Tja, da ist natürlich diese generationsbedingte Neugierde, aber auch eine tief sitzende Abneigung. Wir jungen Leute wollen uns unbedingt abgrenzen von unseren Eltern und dem Deutsch sein. Das Grauen vor dem Sinnbild des Spießbürgertums ist groß: der Socken-in-Sandalenträger, der sich am Hotelbuffet vordrängelt, vor acht Uhr mit hämischem Grinsen eine Liege in Bestlage reserviert und meistens nicht mal „sänk ju“ sagt. Genauso schlimm scheint die jugendlichere Variante des Trichtersäufers auf Malle. Vor dieser all-inclusive-Mentalität ekeln wir uns so sehr, dass wir krampfhaft darauf bedacht sind, Interesse an anderen Ländern, Lebensstilen und Sprachen zu zeigen. Manchmal machen wir uns es dabei leider so einfach, tansanische Lehmhütten genau wie die Slums von Rio als einen integren Teil der fremden Kultur zu simplifizieren.
Das Phänomen kann man etwas sperrig, dafür aber auf den Punkt mit einem Wort benennen: Horizonterweiterungsreise. Wie ein Kompass führt uns der Drang, mehr von der Welt zu sehen, riechen, schmecken und fühlen an Orte, die vorher unbekannt waren.Wir wollen wissen, wie es sein kann ohne Konto, Leistungsdruck und erste-Welt-Sorgen. Wir haben das Bedürfnis, Geschichten zu erleben, auf die wir später gefühlsduselig zurückblicken – und leben dadurch in einer ganz verrückten Zeitform, dem Futur II. Ein romantisches Pärchenwochenende am Bodensee, Piña Coladas am Pool oder die Städtereise nach Barcelona generieren weder krasse Erfahrungen noch legendäre Geschichten oder besonders viele Likes auf Facebook oder Instagram. Zumindest glauben wir das.
So ein Generationsding sollte man nicht missbilligen, aber kritisch sehen. Sofern ich nicht gerade mit Glücklichsein beschäftigt war, habe ich im tansanischen Bergdorf über Moskitostiche, das Funkloch und die Rückenschmerzen gemeckert. An einem Ort, an dem die meisten Menschen an der Armutsgrenze leben und Nahrungsmittel lange Wege auf dem Kopf schleppen müssen, finde ich diese Waschlappigkeit im Nachhinein eher unangebracht. Dafür habe ich mich nie wie ein Zoobesucher benommen und mich mit den Menschen ausgetauscht statt ihnen zuzusehen – hier liegt für mich die Abgrenzung zum Slumtourismus. Ich finde, um einem fremden Ort näher zu kommen, dürfen wir auch mal einen Monat lang die Armut anderer Menschen und die Tücken unseres Verdauungssystems kennen lernen. Dabei sollten wir eines nie vergessen: Das Leben in Lehmhütten und Wellblechhäusern fasziniert uns nur deswegen, weil wir kleine Unannehmlichkeiten genau wie großes Elend mit dem Betreten des Sicherheitsbereiches am Flughafen zurück lassen können.
„Das ist halt das echte tansanische Leben. Richtig ursprünglich“, denke ich dann beim Benutzen der Wasserkellen-Klospülung. In meiner Euphorie spritze ich meine nackten Flipflop-Füße mit der trüben Flüssigkeit aus der niedrigen Schüssel voll.
Bei diesem Bild von Armut müssen manche Leute an politische und soziale Probleme denken. Andere würden stattdessen gerne einen Like-Button drücken.
Wenn ich meine Uhr zehn Monate zurückdrehe, befinde ich mich an einem der ärmsten Orte in dem für afrikanische Verhältnisse einigermaßen reichen Land. Und ich bin begeistert. „Karibu“, also "Willkommen", sagt man in ganz Tansania zusätzlich zum "Hallo" – und hier fühlt es sich nicht wie eine Floskel an. Ich probiere ein einfacheres, aber gleichzeitig härteres Leben aus. Und es scheint zu passen. Ja, ich bin zwischen Lehmhäusern und Wellblechdächern so glücklich wie lange nicht mehr. Obwohl ich mich gerne mal wieder bei meinen Freunden melden würde, unter chronischem Durchfall leide und über Rückenschmerzen jammere.
Wieder zurück im Jetzt scrolle ich in meinem Facebook Newsfeed über das obligatorische Wellblech-Foto aus dem Brasilienurlaub meiner Kommilitonin –27 Likes bekam sie dafür. „Wie kann man so ignorant mit einem Bild von Armut umgehen?“, denke ich wütend. Im nächsten Moment quält mich ein hartnäckiger Gedanke: „Hast du nicht selbst ein Bild von tansanischen Kindern mit Karies-Lächeln und abgewetzter Kleidung geteilt?“ Stimmt, habe ich. Plötzlich fühle ich mich ertappt – und muss mir ziemlich ungemütliche Fragen stellen: Zieht mich Armut irgendwie an? Und wenn ja, warum? Setzen wir mit unseren Reisen und Fotos denn nicht die Würde anderer Menschen herab?
Kritiker schreien jetzt: „Natürlich macht ihr das, ihr verzogenen Westkinder!“ Für Reisen in ärmere Gegenden haben sie Begriffe wie „Menschensafari“ oder „Armutspornografie“ parat. Tatsächlich erlebt die sehr fragwürdige Branche des Slumtourismus einen Boom wie einst der Ballermann. Kommerzielle Anbieter oder karitative Einrichtungen machen in Städten wie Rio de Janeiro, Kapstadt und Neu-Delhi mit geführten Touren durch Armenviertel richtig Geld. Dabei trampelt man teilweise zu zwanzigst in ein Zuhause, fotografiert hemmungslos in der Privatsphäre der Bewohner herum und ist fasziniert bis schockiert. Durch solche Exkursionen werden Familien oftmals als Opfer stilisiert und durch mitleidige Zooblicke entwürdigt. Genauso ignorant ist es, wenn wir Touristen die Slums als kulturelle Eigenheit mit einem gewissen fremdartigen Charme abstempeln. Schließlich sind sie ein politisches und soziales Problem. Wenn wir für Touren bezahlen, geben wir den Regierungen in Brasilien, Südafrika und anderswo Anreize, Armut nicht zu bekämpfen, sondern zu vermarkten.
Für die meisten Backpacker kommt organisierter Slumtourismus nicht in Frage, schließlich will man das fremde Land lieber auf eigene Faust erkunden. Ein gewisses Maß an Voyeurismus haben unsere Exkursionen in arme Gegenden aber auch an sich. Was gefällt uns also so an ihnen? Tja, da ist natürlich diese generationsbedingte Neugierde, aber auch eine tief sitzende Abneigung. Wir jungen Leute wollen uns unbedingt abgrenzen von unseren Eltern und dem Deutsch sein. Das Grauen vor dem Sinnbild des Spießbürgertums ist groß: der Socken-in-Sandalenträger, der sich am Hotelbuffet vordrängelt, vor acht Uhr mit hämischem Grinsen eine Liege in Bestlage reserviert und meistens nicht mal „sänk ju“ sagt. Genauso schlimm scheint die jugendlichere Variante des Trichtersäufers auf Malle. Vor dieser all-inclusive-Mentalität ekeln wir uns so sehr, dass wir krampfhaft darauf bedacht sind, Interesse an anderen Ländern, Lebensstilen und Sprachen zu zeigen. Manchmal machen wir uns es dabei leider so einfach, tansanische Lehmhütten genau wie die Slums von Rio als einen integren Teil der fremden Kultur zu simplifizieren.
Das Phänomen kann man etwas sperrig, dafür aber auf den Punkt mit einem Wort benennen: Horizonterweiterungsreise. Wie ein Kompass führt uns der Drang, mehr von der Welt zu sehen, riechen, schmecken und fühlen an Orte, die vorher unbekannt waren.Wir wollen wissen, wie es sein kann ohne Konto, Leistungsdruck und erste-Welt-Sorgen. Wir haben das Bedürfnis, Geschichten zu erleben, auf die wir später gefühlsduselig zurückblicken – und leben dadurch in einer ganz verrückten Zeitform, dem Futur II. Ein romantisches Pärchenwochenende am Bodensee, Piña Coladas am Pool oder die Städtereise nach Barcelona generieren weder krasse Erfahrungen noch legendäre Geschichten oder besonders viele Likes auf Facebook oder Instagram. Zumindest glauben wir das.
So ein Generationsding sollte man nicht missbilligen, aber kritisch sehen. Sofern ich nicht gerade mit Glücklichsein beschäftigt war, habe ich im tansanischen Bergdorf über Moskitostiche, das Funkloch und die Rückenschmerzen gemeckert. An einem Ort, an dem die meisten Menschen an der Armutsgrenze leben und Nahrungsmittel lange Wege auf dem Kopf schleppen müssen, finde ich diese Waschlappigkeit im Nachhinein eher unangebracht. Dafür habe ich mich nie wie ein Zoobesucher benommen und mich mit den Menschen ausgetauscht statt ihnen zuzusehen – hier liegt für mich die Abgrenzung zum Slumtourismus. Ich finde, um einem fremden Ort näher zu kommen, dürfen wir auch mal einen Monat lang die Armut anderer Menschen und die Tücken unseres Verdauungssystems kennen lernen. Dabei sollten wir eines nie vergessen: Das Leben in Lehmhütten und Wellblechhäusern fasziniert uns nur deswegen, weil wir kleine Unannehmlichkeiten genau wie großes Elend mit dem Betreten des Sicherheitsbereiches am Flughafen zurück lassen können.