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Bilanz mit Bitterkeit

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Berlin – Mindestens sechs Monate, so war noch im Februar aus dem Umfeld des ehemaligen Bundespräsidenten zu hören, würden sich weder er noch jemand aus seinem engsten Kreis öffentlich äußern. Es war ja auch genug geredet und geschrieben worden über Christian Wulff, seinen Aufstieg und seinen Fall. Als der 54-Jährige am 27. Februar vom Landgericht Hannover vom Vorwurf der Vorteilsannahme freigesprochen wurde, lächelte er, hinterließ ein vorbereitetes Statement. Und schwieg.

Was er zu sagen hatte, schrieb er auf.



Christian Wulff präsentiert „Ganz oben, ganz unten“ auf einer Pressekonferenz in Berlin.

Gut drei Monate später ist auf 259 Seiten (Verlag C. H. Beck) nachzulesen, wie Wulff selbst das alles empfunden hat. Es muss, deutet schon der Titel an, ein Absturz sein. „Ganz oben, ganz unten“, heißt das Werk, das der jüngste Bundespräsident aller Zeiten und der mit der kürzesten Amtszeit verfasst hat. Er hat es im Verborgenen geschrieben, die recht kurzfristige Veröffentlichung gehört zu den Überraschungen des Sommers. Die Vorstellung am Dienstag in Berlin, mit einem angriffslustigen Wulff, war viel beachtet: „Für mich ist das heute hier ein Neuanfang.“

Es ist ein aktuelles Buch: Noch bis 12. Juni hat die Staatsanwaltschaft Hannover Zeit zu entscheiden, ob sie in Revision gehen wird. Weil die Behörde das schon im Januar für den Fall eines Freispruchs angekündigt hatte, lange vor dem Urteil und noch viel länger vor dessen Begründung, wollte Wulff das nicht mehr abwarten: „Von einer solchen Staatsanwaltschaft möchte ich nicht mehr abhängig sein.“

Das Buch selbst ist vieles in einem, eine Selbstreflexion des Politikers Wulff, ein bisschen Berliner Sittengemälde, vor allem aber eine harsche Medienkritik. Wie sich Medien und Justiz in seinem Fall „die Bälle zugespielt haben“, sagte Wulff, „gefährdet Grundprinzipien der Demokratie“. Das Buch verrät Kränkung darüber, dass der Freispruch vor Gericht ihn zwar juristisch rehabilitiert hat, als öffentliche Person aber nicht. Kein Wort der Freude über einen Triumph des Rechtsstaats sei auch nur einem seiner Kollegen über die Lippen gekommen, klagt Wulff. Es muss ihn umso mehr getroffen haben, dass dieselbe politische Klasse schier mit einem Jubelsturm darauf reagierte, dass Uli Hoeneß auf eine Berufung gegen seine Verurteilung zu dreieinhalb Jahren Haft wegen Steuerhinterziehung verzichtete. Sogar Kanzlerin Angela Merkel zollte dem verurteilten Sportfunktionär Respekt – während der Parteifreund Wulff unkommentiert freigesprochen worden war. Keine vier Jahre vorher hatte sie noch ein „kleines Essen am langen Tisch ihres Arbeitszimmers“ herrichten lassen, um ihn zu fragen, ob er Präsident werden wolle: „Was ist eigentlich mit dir?“

Eine gewisse Bitterkeit dürfte ihn also schon geleitet haben, seine im März 2012 begonnenen Aufzeichnungen zu sortieren. Er hatte die Deutungshoheit über sein Leben abgeben müssen – an Zeitungen, an Filmemacher, sogar an seine Ex-Frau Bettina, die lange vor ihm eher für den Boulevard die Zeit in Schloss Bellevue als Autorin aufgearbeitet hatte. Jetzt („Zeit hatte ich ja wirklich genug“) arbeitet er sich an jenen ab, die das „Wulff-Bashing“ betrieben haben, allen voran den Medien, und da an der Spitze: Springer. Dort sieht er die Urheber und – in unheilvoller Allianz mit der niedersächsischen Justiz – die Vollstrecker seines Sturzes, und er beschreibt entschlossen seine Überzeugung, wodurch er es sich mit dem Springer-Konzern verscherzt habe: Als er sich gegen Thilo Sarrazin stellte.

Wochenlang hatten die Springer-Blätter den ehemaligen Berliner Finanzsenator und Bundesbank-Vorstand für seine Thesen zur missglückten Integrationspolitik in Deutschland gefeiert, ehe Wulff in einem Interview den Satz sagte: „Ich glaube, dass jetzt der Vorstand der deutschen Bundesbank schon einiges tun kann, damit die Diskussion Deutschland nicht schadet – vor allem auch international.“

Wulff forderte indirekt den Rauswurf Sarrazins, jenes Mannes, der über die „Kopftuchmädchen“ im Lande endlich alles das aussprach, was angeblich alle dachten: „Für die Verlagsspitze“, schreibt Wulff über Springer, „hing mein Schicksal jetzt offenbar an der Frage: Wie hält er es mit den Muslimen?“ Er habe seine „Bewährungsprobe nicht bestanden“. Wenig später, in der Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2010, folgte wie zur Bestätigung der Leitsatz seiner Amtszeit: „Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ Danach beschreibt Wulff gar eine „Osmose zwischen der Hellerhofstraße in Frankfurt“ – dem Sitz der FAZ – „und der Axel-Springer-Straße in Berlin“. Das ist doch mehr Verschwörungstheorie als Analyse.

Medienmacht ist aber nun mal das Leitmotiv des Buches: „Mächtige Medien vertreten längst den Anspruch, Politik nicht nur zu begleiten und zu kommentieren, sondern selbst Politik zu gestalten und zu bestimmen.“
Diese Wulffs: Nach seiner von ihm getrennt lebenden Frau Bettina („Jenseits des Protokolls“) hat nun auch Ex-Bundespräsident Christian Wulff („Ganz oben Ganz unten“) seine Sicht der Dinge in einem Buch verarbeitet.

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