Quantcast
Channel: Alle Meldungen - jetzt.de
Viewing all articles
Browse latest Browse all 6207

Ich habe eine Meinung, ich weiß sie nur noch nicht

$
0
0
Früher warf man mir oft vor, dass ich keine Meinung hätte. Häufig berechtigt, denn erst im Dialog mit meinem Innern gelangte ich zu einer Ahnung. Dafür benötigte ich Stift und Papier. Mit einem leeren Blatt begab ich mich auf eine Reise, deren Ende ich erst kannte, wenn ich am Ziel angelangt war. Fremde Wege, fremde Routen, immer wieder neue Landschaften erkundete ich.
Wenn ich mir eine Meinung gebildet hatte, sah ich sie als vorübergehend an, denn jede neue Erkenntnis, jedes Stück Wissen hätte sie erschüttern können. Ansichten waren nur Momentaufnahmen in der Zeit.
Heute kann ich schneller sagen, was ich denke. Doch die Äußerungen sind weit unreflektierter als früher, spontane Gedanken, die ich ohne Hilfe des Papiers artikuliere. Einerseits werde ich dadurch mehr ernst genommen. Auf der anderen Seite fehlt mir die Begegnung mit dem Teil von mir, den ich einmal als mich selbst empfand. Meinungen sind nicht mehr ein Wissensstand, den die Ideale blau oder gelb färben, sondern ein Irgendwie: flüchtige, dahingesagte Sätze. Doch damit ecke ich selten an.
Früher stieß ich von Zeit zu Zeit auf Widerstand. Wenn meine Geschwister und ich einen Tag bei meiner Oma verbracht hatten, fuhr sie uns abends zu unseren Eltern zurück. Meist saß ich auf der Rückbank des Autos, und sie stellte Fragen. "Wie hat deiner Mutter das Klassenspiel gefallen?" "Weiß nicht", antwortete ich, starrte aus dem Fenster und zählte Lichterbäume. Ein beliebtes Spiel mit meinen Geschwistern. Gewonnen hatte, wer auf die größte Anzahl weihnachtlich geschmückter Tannen kam. "Hast du nicht mit ihr geredet?" In dem Fall spielte gewiss ein Anflug von Trotz eine Rolle.
Doch auch mein Vater bezeichnete mich als Niemand. Als ich schon wesentlich älter war, kam er einmal in mein Zimmer. Nowhereman von den Beatles ertönte aus dem Radio. Obwohl er solche Musik verabscheute, horchte er auf und erkannte mich im Text wieder. Damals war ich nicht imstande, Meinungen innerhalb von Minuten zu bilden und zu äußern. Ich schwieg nicht ausschließlich aufgrund von Schüchternheit, sondern hatte häufig nichts zum Gespräch beizutragen, fühlte mich wie ein großes Fass, dessen Inhalt einen Zentimeter über dem Boden schwamm und erst gerührt und mit Kellen nach oben geschafft werden musste.
Selbst mein erster Freund schrieb mir einmal verärgert, ich sei nur "leere Hülle ohne Charakter, eigene Meinung und erkennbares Innenleben". Er war das Gegenteil von mir, redete zwei Stunden über die Preise von Aldi, verschraubte die Sätze und erfand unzählige Möglichkeiten, dasselbe noch einmal zu sagen. Mir fiel es schwer, seinen Ausführungen bei der dritten Wiederholung immer noch zuzuhören.
Ich hatte das Gefühl, kein richtiger Gesprächspartner zu sein, ein Beutel, der höchstens zappelt, sich kurz aufbauscht, wenn ein Windstoß kommt, und dann wieder schlaff herunterhängt. Böen wehen selten Gegenstände ins Innere hinein, lassen schnell nach und suchen sich andere Ziele, mit denen sie spielen, in ein Verhältnis treten können. Mit mir war das lange Zeit nicht möglich.
Mittlerweile stellt sich jenes oberflächliche Nichtsein nur noch ein, wenn mein Gesprächspartner durch seinen unermüdlichen Mittelungsdrang meinen Kopf in einen anderen Modus umschaltet. Dann lasse ich die Gedanken los, suche nicht mehr nach winzigen Pausen im Redefluss, um mich einzubringen. Die Worte werden zu einem Bach, der sich über mir ausbreitet, mich langsam immer weiter verdeckt.
Wenn meine Oma heute fragt: "Wie geht es deiner Mutter?", behelfe ich mir mit Smalltalk. Kein einfaches Unterfangen, die richtige Floskel immer parat zu haben, doch meist reicht es für eine zufriedenstellende Antwort. Als meinungslos wurde ich schon lange nicht mehr empfunden. Ich habe gelernt, meine Art des Nachdenkens anzupassen.

Viewing all articles
Browse latest Browse all 6207