Quantcast
Channel: Alle Meldungen - jetzt.de
Viewing all articles
Browse latest Browse all 6207

Spurensuche II

$
0
0
Manchmal wünschte ich, ich könnte einen Tag noch einmal wie ein Kind erleben. Doch Jahr um Jahr beschleunigt sich das Tempo der Zeit. Nur Träume dehnen heute noch die Stunden, und hin und wieder, wenn ich mich tagsüber aus den Augen verloren habe, versuche ich, mir nachts auf die Spur zu kommen.

Früher litt ich unter Alpträumen. Merkwürdige Gestalten traten aus der Tür der schlechten Träume, einer Stelle in der Wand, die ich so getauft hatte, weil aus ihr Figuren in mein Zimmer kamen, die mir Furcht einflößten. Sie befand sich am Plateau meines Hochbettes, genau dort, wo die Treppe endete. Lehmartige Gestalten schritten die Stufen hinab und stellten sich schweigend in den Raum. An anderen Tagen nutzte der Schokoladenfresser diese Tür, um mit mir in Kontakt zu treten, ein großer, dicker Mann, der mit finsterer Stimme seinen Namen sprach und mir das Gefühl gab, er wollte anstelle von Süßigkeiten lieber mich vertilgen.
Als Kind empfand ich solche Träume als real, da ich in ihnen immer noch dort lag, wo ich mich auch in der Wirklichkeit befand. Erst, als meine Mutter das Bett umstellte und ich nicht mehr auf die Tür der schlechten Träume blicken musste, blieb sie für immer geschlossen. Doch bis heute habe ich die Angewohnheit beibehalten, ein Stück Decke über die Ohren zu legen, als könnte jeden Augenblick wieder "Ich bin der Schokoladenfresser" vom Fußende des Bettes ertönen.

Als ich schließlich an einer anderen Stelle im Zimmer schlafen durfte, befand sich in der Wand neben mir die Tür der guten Träume, wie ich sie nannte. Manchmal öffnete sie sich. Ich konnte nie hineingehen, doch ich sprach mit den hellen, durchscheinenden Gestalten, die zu mir kamen, oder kommunizierte mit ihnen per Gedankenübertragung, und blickte in eine nächtliche Welt, die mich mit Geborgenheit und Glück erfüllte.

Gute wie schlechte Träume haben bei Kindern eine andere Dimension und spielen eine ganz entscheidende Rolle im Leben. Dennoch üben auch heute manche Träume noch eine Faszination auf mich aus, und zwar dann, wenn ich merke, dass ich schlafe. Am liebsten stelle ich den Gestalten, denen ich begegne, Fragen. Dies führt bisweilen zu eher belustigenden Situationen, da mein Unterbewusstsein zu dem Trick greift, keinen offensichtlichen Sinn in die Antworten zu legen und mich verspottet, sobald ich weiter nachhake.

Hier einige Beispiele: Eine Männerstimme ertönt aus dem Off. "Man soll die Verteilung der Gockel auf Fenster und Türen gleichmäßig beachten." Ich verstehe das Wort "Gockel" in dem Zusammenhang nicht, doch als ich nachfrage, ernte ich Erstaunen über meine augenscheinliche Dummheit.
Ein andermal will ich den Grund für meinen ungewöhnlichen Vornamen wissen. "Weil du ein ganzer Ring bist, in der Vergangenheit, in der Zukunft." Aha.
Dann wiederum befinde ich mich auf einer großen Straße. Als ich klares Bewusstsein erlange, versuche ich, mich zu orientieren und nehme die Menschen ins Blickfeld. Einer kleinwünchsigen Person tippe ich an die Schulter. Ich spreche sie an, aber sie ignoriert mich. Anschließend wende ich mich an eine ältere Frau neben ihr: "Welche Rolle spiele ich in meiner Familie?" "Freiling", sagt sie und lacht ein wenig. Doch jegliche Erklärung wehrt sie ab.
Nahezu immer bleibe ich ohne Antworten zurück. Manchmal erfindet mein Gegenüber auch Worte, anstelle sich einer mir nicht zugänglichen Metaphorik zu bedienen.
So öffne ich die Tür eines Ladens oder einer Werkstatt. Dort sitzt mein Chef an einem Schreibtisch. Da ich ihn im realen Leben nicht kenne, frage ich ihn, wer er sei. "Der Debatigkonvertor, der Legenden von den Lenden entwickelt", antwortet er und lacht. Ich überlege, ob er "Leben" und nicht "Lenden" meint. Doch er lässt mich mit der Frage allein zurück.

Trotz allem bleibt in solchen Situationen eine Kombination aus Gefühl, Ton und Farbe hängen, die mir einen Schimmer von dem zeigt, was ich bin.

Viewing all articles
Browse latest Browse all 6207