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Vom Überlebenskampf der Antiquariate

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Eindrücke von der Agonie einer kulturellen Institution


Von Dr. Andreas Kleemann


Die dichte Menschenmenge vor der Glastür wird unruhig. Platzangst darf hier niemand haben. Bis zur Öffnung der gläsernen Doppeltüren sind es nur noch wenige Augenblicke. Die Szenerie erinnert ein wenig an die aus alten Zeiten bekannte Eröffnung des Sommerschlussverkaufs bei Hertie. Doch hier geht es nicht um T-Shirts und Shorts, sondern um Bücher. Antiquarische Bücher. Die Szene wiederholt sich jedes Jahr: Auf die Minute genau eröffnet die Messe „Antiquaria“ in Ludwigsburg  ihre Pforten und 200 bis 300 wartende Besucher strömen in den Musiksaal zu den Ständen der ausstellenden Antiquariate. Einzelne, tatsächlich, im Laufschritt.


Anlass für Irritationen. Sprechen seit Jahren nicht alle von der Krise des Buches? Schließen nicht immer mehr Buchhandlungen, auch Antiquariate? Wer eine der großen Buch- und Antiquariatsmessen in Frankfurt, Stuttgart, Leipzig oder eben Ludwigsburg besucht, könnte in der Tat einen anderen Eindruck bekommen: Die meisten Messen sind gut besucht, die Aussteller halbwegs zufrieden. Doch was sich auf einer Messe abspielt, ist wie die berühmte Spitze des Eisbergs: Neunzehntel liegen unter Wasser. Zuverlässige aktuelle Zahlen zur Lage des Antiquariatsbuchhandels fehlen. Allein die Definition, was ein Antiquariat ausmacht,  hat im digitalen Zeitalter an Trennschärfe verloren.


Aber man kann Eindrücke sammeln. Mit Kollegen sprechen. Liest man regelmäßig das Fachblatt „Aus dem Antiquariat“ wird Gegensätzliches deutlich: Zum Einen schließen Ladengeschäfte für immer. Andere beschränken sich auf Versandhandel: Ladenmiete sparen. Ganz vereinzelt eröffnen sogar neue Läden, immerhin. Doch der Trend der letzten Jahre ist eindeutig: Das Geschäft ist schwierig geworden.  Eine jahrhundertealte Institution, der Antiquariatsbuchhandel, steht über kurz oder lang - zumindest in seiner bisherigen Form - zur Disposition. Zeitenwende. Kulturbruch. Soziale Beschleunigung. Aussterben des Bildungsbürgertums - so und ähnlich artikulieren viele Antiquare den Wandel, dessen Auswirkungen auf ihre Branche drastische Ausmaße angenommen hat. Eine Spurensuche.  


Die digitale Revolution der letzten 15 Jahre hat die Welt des Buches grundlegend verändert. Der Versandhandel über Online-Plattformen wie ebay, ZVAB oder booklooker, vor allem aber amazon gewinnt immer mehr an Bedeutung. Der Markt für Bücher ist zu einem der am härtesten  umkämpften des Einzelhandels geworden -  zuletzt hat das der Weltbild-Verlag schmerzlich erleben müssen. Doch von den Antiquariaten ist meist kaum die Rede, wenn von der Krise des Buchhandels gesprochen wird.  Dabei könnte, wer zum Pessimismus neigt, sagen: Hier ist alles noch schlimmer.


Die Tatsache, dass heute buchstäblich jede Person, ohne Gewerbeanmeldung, von Steuern und Fixkosten befreit, auf den meisten dieser Plattformen gewerbsmäßig in großem Stil gebrauchte Bücher zu Schleuderpreisen  verkaufen kann, setzt die „klassischen“ Antiquariate einem ruinösem Preiswettbewerb aus. Das „moderne Antiquariat“ – also der stationäre Handel mit Remittenten – ist  bereits von der Bildfläche verschwunden. Doch auch für das „echte“ antiquarische Buch hat der  traditionelle Vertriebsweg - ein Ladengeschäft - an Bedeutung verloren. Immer mehr Antiquare schließen deshalb ihre teuren Geschäfte und beschränken sich auf den Versandhandel. Ob das mehr als nur ein Aufschub sein kann, wird sich bald zeigen. Die sichtbarste Folge: Antiquariate in Innenstadt-Lagen verschwinden zusehends. Wo sie - meist Traditionshäuser - noch präsent sind, wirken sie heute wie aus der Zeit gefallen, als „Inseln der Entschleunigung“ - wie der Soziologe Hartmut Rosa das nennt.  Aus diesem Umstand beziehen die aus betriebswirtschaftlicher Sicht zu 80% schon immer in rauer See segelnden Idealisten, die Antiquarinnen und Antiquare ja meist sind, aber auch eine ganz neue Attraktivität. Für die Buchzirkulation sind sie sogar noch wichtiger geworden. Denn immer mehr Menschen wissen nicht, wohin mit ihren alten Büchern. Die Kinder und Enkel jener noch buchaffinen Generation, die jetzt in die Altenheime umzieht, bringen jede Woche zigtausende Bücher auf den antiquarischen Buchmarkt. Entweder direkt online verscherbeln oder ab damit zum Antiquar damit, so die Devise.    


Meist ist es der Mobilität geschuldet, dass viele dieser „Nomaden der Globalisierung“ sich von alten Büchern regelrecht „befreien“ wollen. Der Strom an Büchern, der so in die verbleibenden Antiquariate hinein drängt, ist breit und mächtig geworden wie nie und bringt Antiquariate in mehrerer Hinsicht  an ihre Kapazitätsgrenzen.


Und die Kunden - wie lassen die sich im Jahr 2014 beschreiben?  Die erste Variante verirrt sich eher  ins Ladengeschäft. Und kauft trotzdem etwas. Die zweite Variante sucht den Antiquar noch immer ganz bewusst  auf, um zu „stöbern“. Und kauft meist auch etwas. Die dritte Variante des Kunden - und hier wird es problematisch - will sich jedoch erklärtermaßen „einfach nur mal umschauen“, von vorne herein ohne feste Kaufabsicht: Als „Buch-Voyeure“ lassen sie sich am treffendsten bezeichnen. Sie schauen, notieren Preise, geben gerne auch mal Kostproben der eigenen Belesenheit – und bestellen dann billigst irgendwo anders online. Diese wachsende Anzahl von Adepten der „Geiz ist geil“-Ideologie ist bekanntlich nicht nur der Alptraum von Antiquaren.  


Dabei scheint das Verb „stöbern“ geradezu von Antiquariaten erfunden zu sein.  Es bezeichnet eine meist halb absichtsvolle Tätigkeit des Suchens und Entdeckens, des Lesens und Betrachtens, oft verbunden mit dem Glück des Finders über ein seit langem gesuchtes Buch - erotischen Gefühlen nicht ganz unähnlich. In einem Antiquariat bedeutet es für den Besucher des 21. Jahrhunderts  eine Art plötzlicher und unverhoffter Entschleunigung.  Mit seinem Betreten kommt man in ein Umfeld, das gleichsam materialisierte Geschichte repräsentiert, eine Art „Zeittunnel“. Manche Besucher verhalten sich, als seien sie in einer Kirche oder einem Museum: Man unterhält sich im Flüsterton. Das Gefühl des „Heiligen“, des „Besonderen“ stellt sich im Antiquariat ein als eine Art Ehrfurcht vor den in Büchern geronnenen Geist vergangener Zeiten und Geistesgrößen, oft auch nur vor dem Alter oder der handwerklichen Schönheit der dargebotenen Bücher.  Je mehr ein Antiquariat allein durch seine pure Existenz gleichsam aus der immer schneller  werdenden Zeit fällt, desto eher entwickelt es ohne eigenes Zutun auf den Besucher musealen Charakter. Wo andere Branchen immer hektischer künstliche Lebens- und Shoppingwelten entwerfen,  ist das Antiquariat gleichsam authentisch.  Der Besucher „vergisst“ darüber oftmals, dass er die angebotenen Bücher ja auch kaufen kann. Er wird mit historisch „angereicherten“ Büchern konfrontiert, deren Alter sein eigenes Lebensalter meist übertrifft und so auch unbewusst an seine eigene Vergänglichkeit erinnert. Ein Antiquariat gerinnt heute deshalb gleichsam zum begehbaren Vanitas-Motiv, das viele danach eher andächtig verlassen. Mit oder ohne Buch. Überleben kann ein Antiquariat von dieser Ambivalenz jedoch nicht.


Was macht all das aus dem Beruf? Da kein Antiquar mit Ladengeschäft es sich noch leisten kann, seine Bücher nicht online anzubieten, hat dieser in den letzten Jahren immer mehr Züge eines Bürojobs angenommen. Mit der populären TV-Figur eines Wilsberg hat das alles nicht das Geringste zu tun. Hatte er früher noch Zeit für Gespräche mit seinen Kunden, gelten heute andere Maximen. Enge Beziehungen zwischen dem Antiquar und seinen Kunden, denen eines Arztes zu seinen Patienten nicht unähnlich, sind selten geworden. Die älteren Kunden mit humanistischer Bildung kommen ins Sterbealter, während die verbleibenden Büchersammler sich fast nur noch im Netz orientieren.  


Früher angesiedelt zwischen Gelehrtem, Sammler und Kaufmann, der Lektüre der von ihm angebotenen Bücher selbst nie abgeneigt, agiert die neue Generation von AntiquarInnen im Zeitalter der völligen Markttransparenz heute wie Börsenmakler: Man verbringt die meiste Zeit des Arbeitsalltages am PC, beobachtet die online-Märkte, aktualisiert und ergänzt die eigenen Angebote. Denn hier, im Netz, macht der Antiquar mit Laden heute an die 50 Prozent seines Umsatzes. Tendenz steigend. Der klassische Vertriebsweg „Ladengeschäft“ ist zum Luxus geworden und scheint nur noch dort halbwegs rentabel, wo Tourismus vorhanden oder aber genügend gebildete und zugleich kaufkräftige  Laufkundschaft ansässig ist - also beispielsweise in größeren Städten mit eigener Hochschul-Infrastruktur.


Auf der anderen Seite ist der stark angewachsene Strom von eingelieferten Büchern für den Antiquar kaum noch zu bewältigen. Er kommt nicht nur von der Lagerkapazität her betrachtet schnell an seine Grenzen, sondern auch finanziell. Es fehlt immer mehr die Zeit für die Pflege des Ladensortiments, für systematische Lagerhaltung oder auch nur für die Preisauszeichnung „frisch“ hereingekommener Bücher. Der Eindruck des „Bücher-Chaos“, den viele Ladenantiquariate beim Betreten vermitteln, ist denn auch weniger der mangelnden Selbstorganisation des Antiquars zu verdanken, als eben oftmals Ausdruck von Arbeitsüberlastung.


War der Antiquar einst ein bibliophiler Idealist - „kaufmännischer orientiert als ein Gelehrter, und gelehrter als ein Kaufmann“, wie es ein schönes Bonmot bezeichnet, so hat sich heute die Waagschale irreversibel auf die Seite des Kaufmanns verschoben. Die neuen Zeiten lassen den gegen seine Irrelevanz kämpfenden Antiquar kaum eine andere Wahl. Sich dennoch eine restliche Portion an Idealismus zu bewahren und  weiterhin als kundiger Sachwalter der Bibliophilie in den Tiefdruckgebieten der Populärkultur zu positionieren, ist dann nicht Ausdruck eines „antiquierten“ Konservatismus,  sondern eines flexiblen und modernen Berufsverständnisses.


Und mit dieser Zumutung sind Antiquare derzeit bekanntlich nicht allein.


Dr. Andreas Kleemann ist seit 2002 Inhaber des „Antiquariats am Mehlsack“ in Ravensburg. Davor arbeitete er als Journalist und Nachrichtensprecher sowie als Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen, zuletzt an der Universität St. Gallen in der Schweiz.

www.antiquariat-mehlsack.de

(Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in der März/April 2014-Ausgabe:"literaturblatt für Baden-Württemberg). 








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