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Da fiel ein Groschen - und kein zehn Cent Stück.

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Wieder mal Feiertage. Wieder mal Familienbesuch in der Provinz. Gottergeben und angenehm schokoeiersediert steh ich als ältliche Tochter hinter meiner kleinen, vor Ungeduld platzenden Mutter inmitten von ländlichen Jungfamilien an der Fleischtheke des Neukoop.
Vor uns debattieren drei Fleischfachverkäuferinnen und eine aufgebrachte Kundin im plattdeutschen Singsang das Rätsel der verschwundenen Feiertagsbestellung. Schweinelachsbraten mit Mett-Paprikafüllung. 3,5 Kilo. "Am Midwoch füa hoide - Samstach! - bestellt!" und nicht auffindbar. Man hätte zwar genau so einen Braten im Kühlhaus, aber auf den Namen Pieritz. Die Dame heißt nicht Pieritz sondern Neuenkamp und sie ist sich sicher, dass es sich dabei nur um ihren Braten handeln könne. Man ruft den Filialleiter als Zeugen der Bestellung vom Mittwoch. Meine Mutter schnaubt wie ein kleiner Drache, rollt mit den Augen. Schaut mich vorwurfsvoll an, ich zucke mit den Schultern. Ich stehe stoisch in meinem feldgrauen Wintermantel hinter ihr, während Horden von Hochschwangeren mit zwei bis drei putzigen Kindern und Göttergatten hinter mir in Ostervorfreude durch den österlich bunt dekorierten Markt ziehen. "Nein, Ann-Sophia, pack das sofoad zurügg wia ham genuch Schokolade! Sofoad oder Mama wird böse,…"
Die Schlange an der Fleischtheke wird länger. Nichts geht mehr. Schweineschnitzel werden vom Chor der Fleischfachverkäuferinnen nervös umsortiert, als ob sich ein 3,5 Kilo Braten unter den Minutensteaks verstecken könnte. Man ist ratlos aber ausdauernd hilfsbereit. Ich fixiere die goldfarbenen Dosensuppen der Marke Fleischerei-Hausgemacht, die sich an der Wand hinter der Theke in Regalen zu formschönen Pyramiden auftürmen. Kneife die Augen zusammen, um die Etiketten lesen zu können. Gulaschsuppe. Hühnersuppe. Tomatensuppe. Mockturtel.
Mockturtel,... Lange nicht gesehen. Ich summe ein altes Radiojingle. Seltsam, was sich so ins Gehirn einbrennt. "Bussmockturtel, Bussmockturtel, das ist die Genussmockturtel." Das Gehirn ist aber auch manchmal eine Müllhalde,... heieiei. Während der Streit um den verschwundenen Festtagsbraten in die nächste Runde geht und man sich einer Lösung annähert - "Sie holen aus der Gemüseabteilung eine Paprika, zahlen die an der Kasse und wir füllen dann den Schweinelachsbraten 3,5 Kilo schnell für sie" - und meine Mutter kleine wütende Schnapp und Schnauflaute macht und ihre frisch gesträhnten Haare vor Wut leise zittern, frage ich mich zum ersten Mal in meinem Leben, was zum Teufel eigentlich Mockturtel sein soll. Was ist das überhaupt für ein Wort. Mockturtel. So eins wie Labskaus? Oder Knipp? Ich erinnere mich an braune, dicke Suppen mit kleinen, knorpeligen Fleischklumpen und undefinierbarem Geschmack.
Meine Mutter murmelt damenhaft empört in Zimmerlautstärke - ihre Spezialität - "20 Minuten stehen wir hier schon, für EINE Beinscheibe,…" Ich fixiere die Dosenstapel, um nicht den lodernden Blicken meiner Mutter ausgesetzt zu sein - "sag DU doch auch mal was!" - oder den hochschwangeren Bauch zu meiner rechten wahrnehmen zu müssen, der vom Göttergatten liebevoll gestreichelt wird, während zwei weitere Blagen an den Beinen hängen und man als Familie das Grillgut in inniger Umarmung mustert.

Mockturtel. Crazy Shit. Und ich lache, als der Groschen nach 30 Jahren fällt und meine Mutter ihre Bestellung endlich aufgeben kann. Mockturtel. Mock Turtle. Falsche Schildkrötensuppe. Eine Veteranin der Lebensmittelindustrie. Eine enge Verwandte des Kalten Hundes und des Falschen Hasens. In ehrfürchtigem Staunen verlasse ich den Laden.

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