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Berliner Gespräche Teil 1

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Zwischen ihnen stand ein kleiner runder Tisch aus dunklem Holz, darauf eine Vase mit duftenden, blauen Hyazinthen. Der Kellner kam mit ihrer Bestellung und stellte die zwei Cappuccinos vor sie auf den Tisch. Sie hatten alle Mühe einen Anfang für dieses Gespräch zu finden und so schwiegen sie sich eine Weile an, während Paula gedankenverloren Zucker auf ihren Kaffee streute und so lange umrührte, bis der Milchschaum völlig in sich zusammengefallen war.


„Wie geht’s deinem Bruder?“, fragte Georg leise und versuchte ihren Blick einzufangen. Er konnte sehen, wie ihre Wangen ein wenig Farbe bekamen, offensichtlich hörte sie diese Frage nicht gerne. Paula sah ihn nicht an, sondern kramte in ihrer großen Lederhandtasche nach einer Zigarette, pustete auf den Filter und zündete sie an. „Keine Ahnung. Das weißt du doch. Wir haben keinen Kontakt“. Ihre Stimme wurde eine Nuance höher, wie immer, wenn sie über ihre Vergangenheit sprach. „Ich will auch gar keinen Kontakt zu ihm. So ist es gut.“ Es fühlte sich merkwürdig an, so über ihren Bruder zu reden, fast als gäbe es ihn nicht. Und das in der Stadt, in der er lebte, irgendwo. Vielleicht noch immer in der selben Altbauwohnung in Neukölln wie damals, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten.


Es war vier Jahre her, als sie nach der Geburtstagsfeier ihres Onkels noch mit ihm um die Häuser gezogen war. Juri war auch dabei gewesen, der gutaussehende Freund ihres Bruders, den sie Jahre zuvor auf einem Elektrofestival kennengelernt hatte. Sie waren tanzen gegangen, zwischendurch waren Juri und Tom, ihr Bruder, immer wieder verschwunden, um sich auf dem Klo eine Line Speed reinzuziehen. Paula hatte das gewusst, aber es war ihr egal. Ihr Bruder war alt genug, er war der ältere. Gegen Drogen hatte sie sowieso nichts, nur mochte sie es manchmal nicht, wie sich die Leute dann benahmen. Sie selbst kiffte nur ab und zu, für alles andere fehlte ihr der Mut. Der Abend war lustig gewesen, sie hatte sich ans Bier gehalten und im Morgengrauen waren die drei mit klingenden Ohren zu Tom nach Hause getorkelt. Paula hatte auf der Couch geschlafen, von vibrierenden Bässen der Nachbarsmusik noch lange wachgehalten und war am nächsten Morgen mit ihrem Vater zurück nach Bayern gefahren.


„Dein Bruder war schon immer komisch. Dauernd hat er irgendeinen Scheiß gelabert und alle damit genervt.“ Georg hatte sich zurückgelehnt und wirkte entspannter. Er nahm einen großen Schluck von seinem Cappuccino und erzählte weiter: „Er ist einfach total kaputt. War er schon immer. Und das mit den Drogen...“ „So ist er eben. Er ist...sensibel. Es ist viel Scheiß passiert und er hat das nicht abgekonnt. Ich weiß nicht...“ Paula kaute auf ihrem Fingernagel. Sie war zerknirscht. Alle schimpften über Tom, sagten, dass er verrückt sei und aggressiv. Keiner wusste das besser als sie, aber sie hatte das Gefühl, ihn verteidigen zu müssen. Keiner durfte so über ihn reden, er war doch ihr Bruder. Trotz allem. „Wenn einem so viel Mist passiert, dann kann man schon mal ausklinken. Und ja, die Drogen... das war wohl nich gerade hilfreich. Es ist eben...“. Paula seufzte laut. Sie hatte keine Lust mehr, darüber zu reden. Dieses Gespräch führte sie dauernd und es drehte sich nur immer um sich selbst. Sie hatte das Gefühl, nur den Voyeurismus ihrer Zuhörer zu befriedigen, wenn sie ihren Bruder schlecht machte. Schließlich war es damals ein riesen Skandal in ihrem Dorf gewesen. Sie zündete sich noch eine Zigarette an und wischte sich etwas Asche vom Oberschenkel.


 Sie hasste ihren Bruder. So wie man nur jemanden hassen konnte, den man eigentlich liebt. Oder einmal geliebt hat. Und sie dachte nicht gerne an ihn. Wenn sie an Tom dachte, tauchten diese verfluchten drei Jahre wieder in ihrem Kopf auf. Die beschissenen drei Jahre, die ihre behütete Kindheit löschten und durch Chaos und Tragödie ersetzten. Und nun saß sie hier, in Neukölln, in seinem Kiez, mit Georg, der früher einmal Toms Freund gewesen war. Eigentlich kannte sie Georg nicht gut. Er war immer einer von den Großen gewesen. Er war um einiges älter als sie und lebte schon lang nicht mehr in ihrem Dorf, als Paula ein Teenager wurde. Jetzt waren sie beide erwachsen, mehr oder weniger. Manchmal chatteten sie, dann machte er ihr Komplimente, die sie nicht ernst nahm. Aber es machte Spaß, Georg war gut für ihr Selbstbewusstsein und stillte ihr Verlangen nach Aufmerksamkeit. Er war liiert, aber es kümmerte sie nicht. Sie wusste sowieso nicht, wo das hinführen sollte. Als klar war, dass sie ein paar Tage in Berlin sein würde, hatten sie sich zum Kaffee trinken verabredet. Und jetzt saßen sie hier.


Georg sah nicht besonders gut aus. Er war nur ungefähr so groß wie sie und hatte ein kleines Bäuchlein, das sich deutlich durch das T-Shirt abzeichnete. Er trug einen Vollbart, eine randlose Brille und hatte ziemliche Geheimratsecken. Aber er war nett zu ihr, sagte ihr, dass sie schön sei und sexy, und so hatte Paula sich ein kurzes schwarzes Kleid angezogen und etwas zu viel Mascara aufgetragen, bevor sie losgegangen war.


Georg begann, sich mit geübten Handbewegungen eine Zigarette zu drehen. Er fegte die Tabakkrümel vom Tisch und fragte: „Wie geht’s deinem Vater?“ Paula lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Er hat Krebs.“ Sie wusste selbst nicht, warum sie das manchmal machte. Sie hasste den ganzen Scheiß, der gerade in ihrem Leben passierte, aber manchmal, und dann auch nur ganz kurz, genoss sie es, damit zu provozieren und von anderen als das arme, bemitleidenswerte Mädchen gesehen zu werden, das genug für zwei Menschenleben erlebt hatte und dadurch beinahe unantastbar wurde. Sie sah im dabei direkt in die Augen, als erwartete sie, dass er unter ihrem Blick zu Staub zerfiel. Sie blinzelte und die Milde kehrte wieder in ihre Augen zurück. „Es wird schon wieder. Ist ja nicht das erste Mal. Zum Glück haben sie es früh erkannt und er ist sofort operiert worden.“ „Welchen Krebs hat er?“ Georg hatte angefangen, seine Brille mit einer Serviette zu putzen. Der leere Blick ihrer Augen hatte ihn beunruhigt. Paula legte die Unterarme auf den Tisch und erzählte beinahe beiläufig, aber sie konnte den schrillen Ton in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken. „Lunge. Diesesmal. Das letzte Mal war es Darmkrebs. Er hat damals sogar aufgehört zu rauchen, aber das hat wohl nichts gebracht.“


Georg sah Paula an. Sie blickte verschämt zur Seite, als er sie musterte. Sie war hübsch mit ihren großen dunklen Augen, den langen Wimpern und den vollen Lippen. Einzigst der Nasenring erinnerte noch an das Hippiemädchen, das sie früher gewesen war, mit roten Dreadlocks und kunterbunten Klamotten, die nie zusammen passten. Er wollte ihre Hand nehmen. Georg wusste selbst nicht genau, ob es an ihrer traurigen Geschichte und ihrem müden Blick lag, der sie so anziehend für ihn machte, aber in diesem Moment wünschte er sich, er könnte sie küssen. Er schloss für ein paar Sekunden die Augen und stellte sich vor, wie sie wohl nackt aussähe. Dann fragte er: „Weiß dein Bruder, dass dein Vater krank ist?“  


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