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[Mit der NPD wurde ein Freundschaftsvertrag geschlossen]

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„Unter weiß grauen Glatzen hassverzehrte Fratzen.
Aus ihren Mündern purzelt munter rechte Propaganda rauf und runter.“ Du stehst vor dem alten Röhrenfernseher und versuchst dich im Dichten. „Was ist denn bei dir los?“, frage ich.  Du hast eine Mohrrübe in der Hand, dein Frühstück. Du beißt ab: „Die Glatzen, sie marschieren wieder.“ Du grinst und deutest mit der freien Hand auf den Fernseher. Trotz deines Gesichtsausdruckes schwingt in deinen Worten etwas Bedrohliches mit. „Sie vernetzten sich jetzt international, um gemeinsam den Rückzug ins Nationale zu propagieren.“ Ich muss entgeistert schauen, denn du nickst bestätigend und sagst „ganz ehrlich. Die Glatzen treffen sich jetzt in Tschechien, in Deutschland, in England alle zusammen, um darüber zu reden, wie sie die Ausländer aus ihrem Land treiben wollen. Und es sind immer mehr dabei.“ Und tatsächlich, im Fernsehen erklärt gerade ein untersetzter, erstaunlich blasser Mann, warum es keineswegs ein Paradoxon sei, sich als Nazi interkulturell über den Nationalsozialismus auszutauschen: „Das schließt sich nicht aus. Die kämpfen für den Erhalt ihrer Kultur. Das verstehe ich. Das kann ich nachvollziehen. Das mache ich ja auch.“ Das Wort Paradoxon erwähnt er selbstverständlich nicht.

Du kaust seelenruhig weiter auf deiner Mohrrübe. Ich zwinkere ungläubig in der Hoffnung, die Bilder mögen so verschwinden. Was sie nicht tun. „Keine hundert Jahre nach später“, sage ich und ringe mit der Fassung, „warum?“ „In einer sich immer mehr ausdifferenzierenden Welt entfaltet der komfortable Leichtsinn einer ideologischen Weltanschauung, die mir nicht nur die Sicherheit fester moralischer Kategorien, sondern zudem die Möglichkeit bietet, überhaupt nicht mehr über mich selbst hinausdenken zu müssen, eine immense Sogkraft“, versuchst du dich in Erklärungsversuchen.

 Ich höre dir nur halb zu und halb meinem pochenden Herzen. „Ich habe Angst“, sage ich, „ dass diese Welt bald eine ist, auf der ich überhaupt nicht mehr leben will.“ Deine haselnussbraunen Augen versinken kurz in meinen und die Zeit pausiert. Für den Bruchteil einer Sekunde flammt vor meinem inneren Auge ein distopisches Szenario auf, in dem du nicht mehr hier bist und ich nicht bei dir bin. „Wird nicht passieren“, sagst du mit Nachdruck und steckst dir den Rest Möhre in den Mund. Ich nicke und küsse deinen Möhrenmund.

Was ich dir nicht verrate: Ich bin mir da manchmal nicht mehr so sicher. Dass ich das Gefühl habe, das Eis wird immer dünner und das Vergessen rasend schneller.  Dass die Menschen niemals klüger werden. Dass Olympia schon 1936 Propagandainstrument, Inszenierungsstrategie eines Irren und seiner Riefenstahl und damit eindeutig weit ab jeder olympischen Idee längt am Ende war. Aber heute immer noch genauso instrumentalisiert wird und alle dabei zusehen, wie größenwahnsinne Unterdrücker Macht, ach was: Großmacht demonstrieren. Dass, wenn es Probleme gibt, immer noch so viele „die Ausländer sind Schuld“ schreien und darüber diskutieren, ob Frauen hinter den Herd gehören.  Dass immer in die alten Muster gefallen anstatt mal weiter gedacht wird. Dass so viele glauben, eine gute Familie bestehe unabdingbar aus Mutter, Vater und Kind und nicht vor allem jeder Menge Liebe. Dass ich einfach nicht verstehen kann, warum die Menschen nicht hinterfragen, woher ihre Ansichten kommen. Dass doch so vieles angelernt ist, dass ihre angeblich so ureigenen Meinungen Referenzen einer Vergangenheit sind, die man endlich mal überwinden sollte. Dass wir doch verdammt noch mal nichts sind, als atomare Anhäufen, Kinder jeder Menge Zufälle und nicht mal eine Haaresbreite gefehlt hätte und wir wären ganz wer anders. Dass einem das doch Demut einflößen muss. Dass mich die Selbstverständlichkeit der Raserei der Hassenden so ins Herz trifft, dass ich mich mehr als ohnmächtig fühle. Dass es doch verdammt erschreckend ist, dass ein Buch mit dem Titel „Deutschland von Sinnen. Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwander“ derzeit Bestsellerstatus genießt. Dass die hirnlose Provokation tatsächlich immer noch am Meisten zieht. Dass mir, wenn ich über all das und dann an die Zukunft denke, das kalte Grauen kommt. Dass die distopischen Szenarien vor meinem inneren Auge jetzt immer öfter auch länger als nur Sekundenbruchteile bleiben und ich mir so sehr deine „wird nicht passieren“ – Haltung wünsche, aber nicht weiß, wie die  noch einzunehmen sein soll.

Dass ich lieber den Abzug drücken, die Reißleine ziehen, die bitteren Pillen schlucken würde, als in einer solchen Welt zu leben.

Du umfasst mein Gesicht mit beiden Händen und massierst mit den Zeigefingern meine Schläfen, vielleicht, weil du bemerkst, dass es in mir tobt. „Wird alles gut“, sagst du und küsst meine Stirn und es gibt nichts, was ich mir wünsche, als das du richtig liegst.


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