An solchen Tagen wie heute, an denen ich Jemanden besuche und die Stadtgrenzen mit meinem Auto verlasse, bemerke ich mal wieder, wie schön die Landschaft um meine Stadt herum ist. Ich fahre immer weiter in irgendeine Richtung, die mir mein Navigationsgerät vorgibt und ich fühle mich schon bald wie auf einer Entdeckertour durch den Regenwald. Ich beobachte die Vögel, wie sie zwitschern und tschiepen und sie sehen so drollig dabei aus. Die Wiesen wirken so frisch und grün, so viele Bäume am Straßenrand. Es ist Sonntag und ich bin ganz allein auf einer Landstraße in Norddeutschland. Bald weiß ich nicht mehr wo ich mich befinde, bin hier noch nie gewesen. Die Ortsnamen sagen mir schon lange nichts mehr. Alle zwei bis drei Kilometer taucht ein Haus rechts oder links auf und ich fahre langsamer. Überrascht von der plötzlichen Zivilisation frage ich mich: Wer zum Teufel wohnt hier?
So schön grün und idyllisch die Gegend auch ist. Ich weiß, dass das bloße Vorbeifahren für mich schon Erholung genug ist und ich weiß in diesem Moment auch wieder, dass das Dorfleben für mich nicht mal eine Alternative wäre, wenn man mir solch ein Haus schenken würde. Ich bin schon seit einer Stunde unterwegs, bis ich merke, dass ich pinkeln muss. Ich kann es nicht mehr aufhalten und es ist weit und breit keine Gastwirtschaft oder Tankstelle zu sehen, in der ich meine Notdurft verrichten könnte. Ich halte am Straßenrand an und schleiche mich zwischen den Bäumen hindurch um mich hinter irgendeinen Baum zu erleichtern. Wie erniedrigend, denke ich, und merke erst beim Aufstehen, dass ich mich in einen Stachelbeerenstrauch gesetzt habe. Fluchend ziehe ich mir die Stacheln aus dem Hintern und reiße mir beim Hochziehen meiner Hose noch ein paar Fäden aus. So eine Scheiße. So eine verdammte beschissene Scheiße. Wer macht solche Nadelsträucher hier hin?
„Man merkt echt, dass du in einer Stadt groß geworden bist, du alte Diva“, antwortet mein Freund als ich ihm wütend am Telefon von meiner kaputten Hose und meinem blutigen Hintern erzähle. Er kann sich ein Lachen dabei nicht verkneifen und ich fühle mich verschaukelt. Ich kann endgültig nicht mehr verstehen, was am Landleben so toll sein soll und fahre weiter genervt durch die Einöde, bis ich endlich angekommen bin.
Ich erlebe es oft von Freunden und Bekannten, dass diese auf dem Dorf in einem prächtigen Anwesen wohnen und mit ihrem Stolz darüber auch meist nicht hinterm Berg halten können. Ein mehr oder weniger geschmackvoll eingerichteter Rückzugsort für den Einen, einzige Möglichkeit um sich was „Eigenes“ leisten zu können für den Anderen. Billige Grundstückspreise. Aha. Und dann gibt es noch jene, die meinen auf dem Dorf kenne jeder Jeden und die das auch noch für etwas Gutes halten. Man helfe sich schließlich gegenseitig, man sei immer in Gesellschaft, habe dort seine Freunde, seinen Verein und überhaupt sei doch dort alles besser. Die Luft sei besser, die Atmosphäre sei besser, das Essen sei viel gesünder, die Kinder würden viel behüteter und unbeschwerter Aufwachsen und überhaupt diese Stille. Hach.
Ich sitze dann meist zuhörend in der Ecke und hoffe, dass man mir nicht anmerkt, wie mir diese Schwärmerei Angst macht. Ich erwähne nicht, dass ich nicht will, dass mich im Dorf jeder kennt, jeder bei mir ein- und ausspazieren kann. Dass ich mich nicht bei jedem Dorffest verpflichtet fühlen will dort aufzukreuzen oder mit zu organisieren; dass es gesundes Essen auch in Biomärkten oder auf dem Wochenmarkt gibt und außerdem - was nutzt mir gesundes Essen und eine angeblich gesündere Luft, wenn der Krankenwagen mindestens zwanzig Minuten braucht, bis er bei mir Zuhause ist und ich bis dahin schon halb verreckt auf dem Wohnzimmerboden liege. Ich will nicht mein Leben mit Skat-Abenden verbringen und in der freiwilligen Feuerwehr.
Ich lebe in einer Stadt, in der es Fachärzte wie Sand am Meer gibt und ich nicht monatelang auf einen Termin warten muss. Ich gehe um die Ecke einkaufen. Ich liebe das Tschiepen meiner Wellensittiche, die auch ganz drollig aussehen und das reicht mir völlig. Wenn ich neue Klamotten brauche, kralle ich mir meine Handtasche, laufe 5 Minuten in die Einkaufsstraße und habe eine Auswahl in hundert Läden, bis ich das Passende gefunden habe. Ich muss nicht fragen, ob ich am Wochenende das Auto benutzen kann um in die Stadt zu fahren oder ob es mein Mann braucht, der mit dem Dorfkegelverein zu irgendeinem Dorfkegelvereinsturnier in ein anderes Dorf gegen einen anderen Dorfkegelverein spielen muss. Nein, ich brauche theoretisch nicht mal ein Auto. Es gibt Busse. Und ich fahre mit meinem Rad binnen weniger Minuten zum Einkaufen. Ich sehe den Kindern gern zu, wie sie auf dem Spielplatz um die Ecke spielen und sie sehen dabei auch nicht unglücklicher aus. Das mag wohl auch daran liegen, dass sie nicht jeden morgen eine dreiviertel Stunde mit dem Schulbus zur nächsten Schule gefahren werden müssen. Ich liebe es, dass auch Sonntag oder Montag Abend die Bars voller Menschen sind, die sich unterhalten und nicht unangekündigt in Jogginghosen beim Nachbarn auf der Veranda stehen. In der Mittagspause gehe ich zu meinem Lieblingsasiaten und schlendere durch die Innenstadt. Ich liebe die Lichter, das ohrenbetäubende Brummen der getunten Autos, den Bahnhof mit den vielen Menschen, die so manche anderen Sprachen sprechen und ja, ich liebe auch den pöbelnden, volltrunkenen Bärtigen, der jeden Abend an meiner Haustür vorbei torkelt. Ich liebe die Stadt. Und ich habe Angst vor dem Dorfleben, wo es das alles nicht gibt.
Andererseits: Ich wohne in einer der ruhigeren Straßen direkt in der Innenstadt, wo ich nur bei geöffnetem Fenster die brummenden Autos hören kann. Ich habe alle meine Ärzte um die Ecke und ich laufe in meiner Freizeithose zum Bäcker im Bahnhof, um meine Brötchen zu holen. Bevor ich mein Auto benutze überlege ich wirklich, ob ich es von dem hart erkämpften Parkplatz weg bewege und laufe einmal mehr in die Innenstadt, wo ich im Grunde auch nur bei immer denselben Läden einkaufe, weil die große Auswahl nach einem langen Bürotag manchmal zuviel Reizüberflutung für mich ist. Ich habe meinen festen Freundeskreis und gehe Sonntags seltener auf einen Cocktail nach Draußen, weil ich es genieße, auch mal die Vorhänge zuzuziehen und die Stadtlichter nicht mehr zu sehen. Ich schlüpfe dann in meine Jogginghose und dann genieße ich sie auch...diese Stille. Hach.
Und während ich so in meinem Auto sitze und weiter durch die Landschaft fahre, kommt mir plötzlich der Gedanke, dass mein urbanes Leben dem stets von mir verabscheuten Dorfleben gar nicht mal so unähnlich sein könnte.
Abends wieder in meiner überteuerten Maisonette- Wohnung angekommen, muss ich feststellen, dass ich sie vermisst habe. Wegen der Treppen, dem Echtholzparkett, den riesigen Fenstern, durch die ich auf den Bürokomplex gegenüber schauen und dem Bankvorstand beim Arbeiten zusehen kann. Wegen der tausend Lichter, der prima DSL-Leistung, den leckeren Cocktails in der Szene-Bar um die Ecke, dem stadtbekannten Szenefrisör im selben Haus, meiner Wellensittiche und den freundlichen Nachbarn. Aber ich komme nicht umhin zuzugeben, dass ich meine Wohnung vor allem deshalb so liebe, weil sie für mich auch etwas „Eigenes“ geworden ist. Ich habe mir hier auch ein kleines Dorfleben geschaffen - in Dorfleben in einer Großstadt. Und plötzlich finde ich das Dorfleben nur noch halb so schlimm.