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großeltern teil 2

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Auf der Fahrt zu meinen Großeltern habe ich kurz vor dem Ziel häufig gebrochen. Die kurvige Strecke durch die waldigen Hügel des Sauerlands drehte mir den Magen um, was natürlich auch durch den starken Geruch nach Zigarettenrauch zustande kam, der sich aus den Polstern des Autos löste. Mein Vater rauchte gerne im Auto, auch wenn das Auto mit der ganzen Familie voll war, aber auf den Fahrten zu meinen Großeltern war er nie dabei. Ich fand das nicht komisch, da ich es nie anders kennengelernt hatte.


 Wenn wir ankamen, musste das hölzerne Tor zur Einfahrt auf den Hof geöffnet werden und meist stand mein Großvater bereits am Eingang des Hauses. Da wir immer im Laufe des Vormittags losfuhren, gab es bald Mittagessen. Die Essensgewohnheiten waren indes merkwürdig: Während für uns der runde Esstisch im Wohnzimmer gedeckt wurde, aßen meine Großeltern abseits in der Küche. Oftmals verzehrten sie auch andere Dinge als wir. Samstags gab es meist Bratwürste mit Kartoffeln und Gemüse, sonntags wurde zur Feier des Tages Kaninchen oder Huhn serviert, die meine Großeltern selbst hielten. Währenddessen aßen meine Großeltern oft eine Milchsuppe. Mein Großvater pflegte die Esswaren in Töpfen an den Tisch zu tragen und jedem dann aufzulegen. Es mag an der litauischen, sprich: osteuropäischen Herkunft meines Großvaters gelegen haben, dass dies nie ohne eine gewisse Nötigung vonstatten ging. Berge von Kartoffeln türmten sich auf den Tellern, und ich nehme an, dass die Unmengen an Nahrung, die wir dort zu verzehren hatten, ein Ausdruck der Gastlichkeit war. Sofern während des Essens Gespräche stattfanden, wurden diese durch die offene Tür zwischen Küche und Wohnzimmer geführt. Beim Abendbrot stand mein Großvater zu Beginn stets neben dem Esstisch und schnitt dicke Scheiben mit einem großen Brotmesser vom an den Rumpf geklemmten frischen Beutelbrot ab. Die Butter wurde dann nicht auf das Brot gestrichen, sondern es wurden etwa 5 mm dicke Scheiben abgeschnitten und auf das Brot gelegt.


Auch zwischen Mittagessen und Abendbrot drehte sich das Leben viel um Versorgungsfragen. In dem großen Garten meiner Großeltern gab es einen Teil, der am Hang lag, unterhalb der Kaserne, in dem die Hühner lebten. Die Hühner wurden zum Teil mit Maismehl versorgt, welches aus getrockneten Maiskörnern per Hand gemahlen wurde. In einem Seitenteil der Scheune, wo auch die Kaninchen lebten, gab es ein oder zwei riesige kommodenartige Möbelstücke, in denen die Maiskörner gelagert waren. Ich saß dort oft gemeinsam mit meiner Schwester stundenlang mit einer Kaffeemühle, um Maismehl zu produzieren. Zwischendurch, wenn mir von der einseitigen Bewegung die Hände schmerzten, stieg ich in den geräumigen Kaninchenstall und streichelte die Tiere. Ich ging auch immer mal wieder in den Hühnerstall, um nachzuschauen, ob endlich mal wieder ein Huhn ein Ei gelegt hatte und brachte es dann ins Haus in die Küche. In dem Teil des Gartens, in dem die Hühner lebten, gab es zahlreiche Sträucher mit roten und schwarzen Johannis- und Stachelbeeren sowie unmittelbar am Zaun zur Kaserne eine Reihe von Haselnusssträuchern und Walnussbäume. Im hinteren Teil des Gartens befand sich eine Reihe von Beeten, die mich nicht besonders interessierten, da wir auch zu Hause einen kleinen Gemüsegarten hatten, aber auch zahlreiche große Apfelbäume und ein Pflaumenbaum, an dem eine Schaukel angebracht war. Dadurch war im Sommer und im Herbst immer viel zu ernten, und ich weiß, dass wir mit dem Einbringen der Ernte sehr beschäftigt waren. Mein Großvater kam zwar mit in den Garten, überließ das Ernten aber meist uns Kindern und mähte stattdessen mit einer Sense das hohe Gras. Zwischendurch pflückte er einen Apfel vom Baum, biss hinein und beklagte sich darüber, dass die Äpfel in diesem Jahr alle wurmstichig seien.


 


Seltener fuhren wir am Nachmittag mit meinem Großvater in den Mini-Supermarkt in der Nähe und kauften dort Vorräte, die ohne motorisiertes Gefährt schwer zu transportieren waren. Oder wir fuhren ein Stück weiter zu einer Konditorei, in der fürs Kaffeetrinken „Proletenkuchen“ gekauft wurde, wie mein Vater ihn nannte, wenn wir ihm erzählten, was wir bei unseren Großeltern gemacht hatten. Damals war mir nicht bewusst, welcher Abgrund in diesem einen Wort steckte. Unter Proletenkuchen verstand mein Vater Kirschstreusel oder Butterkuchen. Für meine Großeltern wurde immer Käse-Sahne-Torte gekauft, mit der man mich jagen konnte. In besonderer Erinnerung sind mir die Besuche bei der „Genossenschaft“. Noch heute weiß ich nicht, um was es sich dabei eigentlich handelte. Diese Besuche waren sehr selten, schienen aber auch besonders wichtig zu sein und standen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Vorsorgen für den Winter. Wenn ich mich recht erinnere, wurden bei der Genossenschaft Bestellungen im großen Stil aufgegeben, nämlich Einkellerungskartoffeln (ich meine, Linda, Granola oder Sieglinde) und Kohlebriketts. Im kühlen Keller meiner Großeltern lagerten die Kartoffeln in einer Art Holzkiste, die nach vorne eine kleine Öffnung hatte, um die Kartoffeln für den täglichen Bedarf zu entnehmen. Wenn sich im Frühjahr die drei Zentner dem Ende näherten, waren die Kartoffeln schon arg schrumpelig und hatten zum Teil schon Triebe entwickelt. Der Hang - oder kann man schon Zwang sagen? – auf schlechte Zeiten vorbereitet zu sein, stand wohl im Zusammenhang mit der Flucht meiner Großeltern aus Litauen bzw. Ostpreußen am Ende des Krieges. Er kann aber auch einfach Ausdruck einer Lebenshaltung gewesen sein, denn im Hausflur meiner Großeltern hing ein kleiner gerahmter Spruch, der mir unvergessen ist: „Ich schlief und träumte, das Leben sei Freude. Ich erwachte und sah, das Leben war Pflicht. Ich tat meine Pflicht, und siehe da, das Leben ward Freude.“


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