Mit dem exquisit rätselhaften Titel „Erst grau dann weiß dann blau“ wurde die niederländische Schriftstellerin Margriet de Moor vor einem knappen Vierteljahrhundert berühmt. Später hießen ihre Romane, deutlich bodenständiger, „Der Virtuose“, „Kreutzersonate“, „Herzog von Ägypten“ oder „Der Jongleur“, „Sturmflut“ oder „Der Maler und das Mädchen“. Bei ihrem jüngsten Werk soll es für die Autorin nicht ganz leicht gewesen sein, ihren deutschen Verlag von der Beibehaltung des Originaltitels „Mélodie d’amour“ zu überzeugen: Man fürchtete, das Publikum damit auf die falsche Fährte, wenn nicht gar auf die Kitschspur zu lenken.
Am Ende des Romans werden 200 Pferde vor dem Ertrinken im Wattenmeer gerettet, was wohl mit diesen passiert?
In der Tat steht die beschwingte Lockerheit des karibisch-französischen Welthits aus den Fünfzigerjahren, der hier zitiert wird, in auffallendem Kontrast zum Inhalt des Romans. Kurios aber ist, dass der aus Cayenne stammende Chansonnier Henri Salvador das Lied 1948 als „Maladie d’amour“ veröffentlichte, zu deutsch „Liebeskrankheit“. Wann und wie auch immer daraus die harmlosere „Liebesmelodie“ wurde und ob die Verfasserin, ausgebildete Pianistin und Sängerin, von der Urversion gewusst hat oder nicht: Das wäre Ihr Titel gewesen, Madame de Moor.
Die Spielarten, Irrwege und Auswüchse des Gefühls, das wir Liebe nennen, weil uns nichts Besseres einfällt, sind seit jeher Margriet de Moors literarische Domäne. Diesmal entwirft sie eine Liebes-Pathologie in Rondoform: In vier Kapiteln mit ineinander verschlungenen Episoden und mehrfachem Perspektivwechsel führt sie Menschen vor, die von jener übermächtigen Empfindung krank oder fast verrückt werden, die daran zugrunde gehen oder unter ihrem Einfluss andere zugrunde richten. Aber sie erzählt auch von jenen, die mit der sogenannten Liebe pragmatischer umgehen, weil sie sich von ihren Emotionen nicht beherrschen lassen – oder weil sie gelernt haben, schmerzliche Erfahrungen in ihrem Innern einzukapseln.
Die Zentralfigur, der nette Archäologe Luuk Doesburg, ist so ein Fall. Er hat eine Ehefrau und eine Geliebte, gönnt sich trotzdem noch eine Affäre und scheint alles gut im Griff zu behalten. Zwar erfahren wir nichts über seine Gefühlslage in dieser Konstellation, aber wir blicken in sein Innenleben, als er noch zur Schule geht und eines Tages seinen Vater mit der schönen Untermieterin in flagranti ertappt. Vielleicht hat er sich bei diesem Vorfall ein Trauma eingehandelt und sich daraufhin einen Schutzpanzer zugelegt: Es gehört zu Margriet de Moors literarischer Kunstfertigkeit, dass sie solche Fragen offenlässt.
So liefert sie auch keine psychologische Erklärung dafür, dass Luuks Vater Gustaaf, der als Chef eines Rotterdamer Saugbaggerunternehmens im niederländischen Delta-Projekt der Fünfziger- und Sechzigerjahre reüssiert hat, die glückliche Ehe mit seiner Frau Atie für die emotionslose Parallelbeziehung zu deren Freundin Marina aufs Spiel setzt. Die Konsequenzen aber führt sie uns gleich eingangs drastisch vor Augen: In einer fast schauerromantischen Nacht- und Regenszene irrt Gustaaf durch den um 1970 noch erhaltenen Rest der Rotterdamer Altstadt, um ein letztes Mal Atie zu sehen, die nach schwerer Krankheit gestorben ist.
Vor Jahren hat sie sich von ihm getrennt, und er liebt sie nach wie vor, obwohl er längst mit Marina und der gemeinsamen Tochter zusammenlebt. In seiner Hilflosigkeit gibt er, Vater von vier Söhnen, die ihm nun als Sargträger entgegenkommen, eine durchaus komische Figur ab. Das bekommt dem Roman gut, denn es signalisiert, dass alle folgenden oder in Rückblenden erzählten Liebesverirrungen auch unter diesem Aspekt betrachtet werden können.
Die Autorin bleibt in der Rolle der distanzierten, zuweilen amüsierten Beobachterin, was die Handlungsweise ihrer liebeskranken Figuren betrifft, doch in der Schilderung ihrer Symptomatik entfaltet sie eine geradezu unheimliche Intensität. Sie lässt die sanfte, ausgeglichene Atie in einem frappierenden Moment zur Furie werden, die sich in den Nacken ihres Gatten verbeißt. Und sie führt die Lehrerin Cindy, die sich immer tiefer in ihre Abhängigkeit von dem leichtlebigen Luuk verstrickt, wie spielerisch auf der Grenze zwischen Sehnsucht und wahnhaftem Stalking entlang, bis sie im Autobus, einen Revolver in der Hand, vor dem Mann ihrer Träume und seiner ahnungslosen neuen Flamme ohnmächtig zusammensinkt.
Doch auch die Rivalin hat ihr Päckchen zu tragen: Roselynde wird umgetrieben von der Erinnerung an ihren Bruder Rogier, dem sie in obsessiver, vielleicht gar inzestuöser Zuneigung verbunden war. Die Namen der Geschwister klingen, als seien sie den alten Büchern entsprungen, die Rogiers Lebensinhalt waren, und ihre Tragödie hat archaische Wucht. Ist Roselynde schuld am Tod ihrer Freundin Iris, in die der Bruder sich verliebte? Wurde die Krankheit, an der er bald darauf starb, durch seinen Liebeskummer ausgelöst, sodass die Schwester auch seinen Tod indirekt verschuldete? Roselynde, deren Ehe mit Rogiers Freund Arthur unter jener Last zerbrochen ist, tröstet sich über solche Fragen in ihrer harmonischen Beziehung zu Luuk hinweg – nicht wissend, dass sie um ein Haar abermals Teil eines tödlichen Dreiecks geworden wäre.
Die erstaunlichste Figur ist Luuks Frau Myrte, die mit den Affären ihres Mannes offenbar keine Probleme hat, die nicht einmal an ihn denkt. Wir begegnen ihr im letzten Kapitel auf einem holländischen Küstenwanderweg, an der Seite einer Jugendfreundin. Deren Vater, ein berühmter Wasserbau-Architekt, war vor vier Jahrzehnten Myrtes große Liebe: Er lag, auf den Tod erkrankt, in der Klinik, in der sie Schwesternschülerin war. Margriet de Moor hält sich auch bei dieser Episode an das Motto ihres französischen Kollegen Francis de Miomandre, das sie ihrem Roman vorangestellt hat: „Le comment n’est pas le pourquoi“, das Wie ist nicht das Warum.
Motive und Zusammenhänge bleiben im Dunkeln, sollen auch nicht durchleuchtet werden. Es geht allein darum, wie die Geschichte erzählt wird, mit all den mäandernden Abschweifungen, die eine Fülle farbiger Details aus Hollands Nachkriegszeit und Gegenwart transportieren, aus einer sich unablässig im Fluss befindenden, immer wieder vom Wasser bedrohten Gesellschaft. Am Ende werden zweihundert Pferde vor dem Ertrinken im Wattenmeer gerettet. Was das mit der Liebe zu tun hat? Wohl nur dies: Es ist ein überraschender, überwältigender und gnadenlos vergänglicher Glücksmoment.
Am Ende des Romans werden 200 Pferde vor dem Ertrinken im Wattenmeer gerettet, was wohl mit diesen passiert?
In der Tat steht die beschwingte Lockerheit des karibisch-französischen Welthits aus den Fünfzigerjahren, der hier zitiert wird, in auffallendem Kontrast zum Inhalt des Romans. Kurios aber ist, dass der aus Cayenne stammende Chansonnier Henri Salvador das Lied 1948 als „Maladie d’amour“ veröffentlichte, zu deutsch „Liebeskrankheit“. Wann und wie auch immer daraus die harmlosere „Liebesmelodie“ wurde und ob die Verfasserin, ausgebildete Pianistin und Sängerin, von der Urversion gewusst hat oder nicht: Das wäre Ihr Titel gewesen, Madame de Moor.
Die Spielarten, Irrwege und Auswüchse des Gefühls, das wir Liebe nennen, weil uns nichts Besseres einfällt, sind seit jeher Margriet de Moors literarische Domäne. Diesmal entwirft sie eine Liebes-Pathologie in Rondoform: In vier Kapiteln mit ineinander verschlungenen Episoden und mehrfachem Perspektivwechsel führt sie Menschen vor, die von jener übermächtigen Empfindung krank oder fast verrückt werden, die daran zugrunde gehen oder unter ihrem Einfluss andere zugrunde richten. Aber sie erzählt auch von jenen, die mit der sogenannten Liebe pragmatischer umgehen, weil sie sich von ihren Emotionen nicht beherrschen lassen – oder weil sie gelernt haben, schmerzliche Erfahrungen in ihrem Innern einzukapseln.
Die Zentralfigur, der nette Archäologe Luuk Doesburg, ist so ein Fall. Er hat eine Ehefrau und eine Geliebte, gönnt sich trotzdem noch eine Affäre und scheint alles gut im Griff zu behalten. Zwar erfahren wir nichts über seine Gefühlslage in dieser Konstellation, aber wir blicken in sein Innenleben, als er noch zur Schule geht und eines Tages seinen Vater mit der schönen Untermieterin in flagranti ertappt. Vielleicht hat er sich bei diesem Vorfall ein Trauma eingehandelt und sich daraufhin einen Schutzpanzer zugelegt: Es gehört zu Margriet de Moors literarischer Kunstfertigkeit, dass sie solche Fragen offenlässt.
So liefert sie auch keine psychologische Erklärung dafür, dass Luuks Vater Gustaaf, der als Chef eines Rotterdamer Saugbaggerunternehmens im niederländischen Delta-Projekt der Fünfziger- und Sechzigerjahre reüssiert hat, die glückliche Ehe mit seiner Frau Atie für die emotionslose Parallelbeziehung zu deren Freundin Marina aufs Spiel setzt. Die Konsequenzen aber führt sie uns gleich eingangs drastisch vor Augen: In einer fast schauerromantischen Nacht- und Regenszene irrt Gustaaf durch den um 1970 noch erhaltenen Rest der Rotterdamer Altstadt, um ein letztes Mal Atie zu sehen, die nach schwerer Krankheit gestorben ist.
Vor Jahren hat sie sich von ihm getrennt, und er liebt sie nach wie vor, obwohl er längst mit Marina und der gemeinsamen Tochter zusammenlebt. In seiner Hilflosigkeit gibt er, Vater von vier Söhnen, die ihm nun als Sargträger entgegenkommen, eine durchaus komische Figur ab. Das bekommt dem Roman gut, denn es signalisiert, dass alle folgenden oder in Rückblenden erzählten Liebesverirrungen auch unter diesem Aspekt betrachtet werden können.
Die Autorin bleibt in der Rolle der distanzierten, zuweilen amüsierten Beobachterin, was die Handlungsweise ihrer liebeskranken Figuren betrifft, doch in der Schilderung ihrer Symptomatik entfaltet sie eine geradezu unheimliche Intensität. Sie lässt die sanfte, ausgeglichene Atie in einem frappierenden Moment zur Furie werden, die sich in den Nacken ihres Gatten verbeißt. Und sie führt die Lehrerin Cindy, die sich immer tiefer in ihre Abhängigkeit von dem leichtlebigen Luuk verstrickt, wie spielerisch auf der Grenze zwischen Sehnsucht und wahnhaftem Stalking entlang, bis sie im Autobus, einen Revolver in der Hand, vor dem Mann ihrer Träume und seiner ahnungslosen neuen Flamme ohnmächtig zusammensinkt.
Doch auch die Rivalin hat ihr Päckchen zu tragen: Roselynde wird umgetrieben von der Erinnerung an ihren Bruder Rogier, dem sie in obsessiver, vielleicht gar inzestuöser Zuneigung verbunden war. Die Namen der Geschwister klingen, als seien sie den alten Büchern entsprungen, die Rogiers Lebensinhalt waren, und ihre Tragödie hat archaische Wucht. Ist Roselynde schuld am Tod ihrer Freundin Iris, in die der Bruder sich verliebte? Wurde die Krankheit, an der er bald darauf starb, durch seinen Liebeskummer ausgelöst, sodass die Schwester auch seinen Tod indirekt verschuldete? Roselynde, deren Ehe mit Rogiers Freund Arthur unter jener Last zerbrochen ist, tröstet sich über solche Fragen in ihrer harmonischen Beziehung zu Luuk hinweg – nicht wissend, dass sie um ein Haar abermals Teil eines tödlichen Dreiecks geworden wäre.
Die erstaunlichste Figur ist Luuks Frau Myrte, die mit den Affären ihres Mannes offenbar keine Probleme hat, die nicht einmal an ihn denkt. Wir begegnen ihr im letzten Kapitel auf einem holländischen Küstenwanderweg, an der Seite einer Jugendfreundin. Deren Vater, ein berühmter Wasserbau-Architekt, war vor vier Jahrzehnten Myrtes große Liebe: Er lag, auf den Tod erkrankt, in der Klinik, in der sie Schwesternschülerin war. Margriet de Moor hält sich auch bei dieser Episode an das Motto ihres französischen Kollegen Francis de Miomandre, das sie ihrem Roman vorangestellt hat: „Le comment n’est pas le pourquoi“, das Wie ist nicht das Warum.
Motive und Zusammenhänge bleiben im Dunkeln, sollen auch nicht durchleuchtet werden. Es geht allein darum, wie die Geschichte erzählt wird, mit all den mäandernden Abschweifungen, die eine Fülle farbiger Details aus Hollands Nachkriegszeit und Gegenwart transportieren, aus einer sich unablässig im Fluss befindenden, immer wieder vom Wasser bedrohten Gesellschaft. Am Ende werden zweihundert Pferde vor dem Ertrinken im Wattenmeer gerettet. Was das mit der Liebe zu tun hat? Wohl nur dies: Es ist ein überraschender, überwältigender und gnadenlos vergänglicher Glücksmoment.