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Küchenpessimisten

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Schlaraffenland ist verloren. Doch wann genau lebten die Menschen im Utopia der Lebensmittel und nahmen nur das Beste für sich und ihren Körper zu sich? Die Antwort hängt von den Vorlieben des Suchenden ab. Handelt es sich etwa um einen Anhänger der Paläo-Diät, aßen nur die Völker der Steinzeit im Einklang mit sich selbst. Singt dagegen ein Anhänger der regionalen Küche das Lied vom Untergang der Lebensmittel, wähnt er das Schlaraffenland nur wenige Generationen entfernt und zeichnet ein Bild, in dem Bauern in Harmonie mit ihrer Scholle Lebensmittel produzierten, die frei von Pestiziden und prall von Aromen waren.



Glückliche Tiere auf grünen Wiesen - auch bei der Lebensmittelherstellung wird die Vergangenheit oft verklärt

Kulturpessimismus ist ein produktiver Koch. Doch es ist vergebens, das Lebensmittel-Utopia in der Vergangenheit zu suchen – dort sind fast nur Geschichten von Mangel zu finden. Im Gegenteil, Schlaraffenland liegt in der Gegenwart. Es befindet sich im Sortiment der Supermärkte, in den Regalen der Biogeschäfte, es liegt auf den Ständen der Wochenmärkte – und auf Abermillionen Tellern. Noch nie haben Menschen in einem solchen Nahrungsüberfluss wie heute gelebt; noch nie standen so vielen Konsumenten so sichere, schmackhafte und gesunde Lebensmittel zur Verfügung wie in einem durchschnittlichen Supermarkt. „Aber das wollen die Leute nicht hören“, sagt der Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder von der Universität Regensburg, der zur Geschichte der Esskultur forscht.

Rund um Lebensmittel herrscht eine besondere Empfindlichkeit, die allzu oft in Pessimismus ausartet. Dioxin, Ehec, Pestizide, Antibiotika und andere Gruselbegriffe kommen dann auf den Tisch, wenn über Sicherheit und Wert moderner Lebensmittel diskutiert wird. „Wir nehmen als Gesellschaft bei Lebensmitteln eine Qualitätskrise wahr“, sagt Hirschfelder, „die aber ist in Wahrheit eine Vertrauenskrise.“ Die Zutaten dieser Krise setzen sich zu einem Gericht zusammen, das nach einer verdorbenen Gegenwart schmeckt, in der Landwirtschaft und Lebensmittelkonzerne gegen die Natur und die Gesundheit des Menschen arbeiten und nichts als giftige Cocktails servieren. Als Gegenentwurf dienen eine Verklärung der Vergangenheit und die Überhöhung von Natürlichkeit, die dort angeblich einst zu finden war.

Das moderne Schlaraffenland ist selbstverständlich kein Ort sorgloser und ewiger Schlemmerei. Die Landwirtschaft plagen zahlreiche Probleme, die Lebensmittelindustrie leistet sich zahlreiche Sauereien. Allerdings verstellen diese negativen Nachrichten den Blick auf die vollen Teller. Das lässt sich anhand einer aktuellen Studie illustrieren, die gerade in der Fachzeitschrift PNAS (online) erschienen ist. Agrarwissenschaftler um Colin Khoury analysieren darin, wie sich Ernährung in den vergangenen 50 Jahren verändert hat. In einem globalen Maßstab hat sich die Vielfalt demnach verringert. Die Menschen essen weniger Hirse, Roggen, Süßkartoffeln oder Maniok; stattdessen haben Weizen, Reis, Mais, Soja, Geflügel und Milchprodukte an Bedeutung zugenommen.

Die Forscher fürchten Konsequenzen. Durch wachsende Abhängigkeit von wenigen Nahrungsmitteln steige die Verwundbarkeit der Landwirtschaft. Ein mächtiger neuer Schädling könnte etwa enorme Hungerkrisen auslösen, wenn die Vielfalt auf den Äckern sinkt. Und die Tatsache, dass die Welt westliche Ernährungsgewohnheiten übernimmt, könnte die Anzahl stark übergewichtiger Menschen steigern und die Prävalenz sogenannter Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Leiden erhöhen, argumentieren die Agrarwissenschaftler. In der Tat, das könnte sein, diese Gefahren sind real.

Die guten Nachrichten jedoch gehen dahinter fast unter. Khoury erwähnt auch, dass immer mehr Menschen steigende Mengen von Kalorien, Proteinen und Fetten zur Verfügung haben. In den Industriestaaten essen die Menschen pro Kopf und Tag laut der Welternährungsorganisation FAO heute etwa 3400 Kilokalorien (kcal). Sogar in den ärmsten Staaten sind es etwas mehr als 2100 kcal – den täglichen Mindestbedarf gibt die FAO mit 1800 kcal an. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich noch immer Leid. Doch der Hunger geht weltweit zurück, die Teller von immer mehr Menschen füllen sich. Aktuell leidet etwa jeder siebte Mensch unter Nahrungsmangel, vor gut 20Jahren war es noch jeder fünfte.

„In Europa werden wir als Gesellschaft auch erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts satt“, sagt Gunther Hirschfelder. Hunger kennen die meisten deshalb höchstens aus Geschichten der Großeltern aus der Zeit nach dem Krieg. Mangel herrscht nun, wenn der frische Koriander oder die Kräutersaitlinge am späten Samstagnachmittag im Supermarkt aus sind. „Wir verfügen heute über zu viele Lebensmittel, ärgern uns darüber und verklären die Vergangenheit“, sagt Hirschfelder. „Dabei sind alle Küchen der Vergangenheit den heutigen unterlegen.“

Die Landbevölkerung ernährte sich in Europa einst vor allem von Getreidebrei, von kaum gewürzten Grützen. Klar, Gemüse und Obst waren regional und saisonal. Aber nur, weil diese Lebensmittel lediglich am Ort der Ernte gegessen werden konnten. Die Menschen litten unter ständigen Lagerproblemen, Frisches war die Ausnahme. Stattdessen aßen sie selbst verdorbene Speisen, weil Nahrungsmittel keine Frage von Genuss oder Gesundheit waren, sondern eine von Leben oder Tod.

Lebensmittelsicherheit? Ja, synthetische Pestizide musste niemand fürchten. Dafür starben Tausende Menschen an Mykotoxinen, dem Gift von Schimmelpilzen. Das Mutterkorn auf Getreide etwa löste das berüchtigte Antoniusfeuer aus, eine oft tödliche Vergiftung. Die Qualität des Wassers war miserabel, überall lauerten Keime. Fleisch oder Fisch waren oft verdorben, weil es so etwas wie eine geschlossene Kühlkette nicht gab. Lebensmittel ließen sich leicht mit minderwertigen Zusätzen verpanschen oder verdorbene Ware als frisch verkaufen. Gegen die Situation vor einigen 100 Jahren herrschen heute paradiesische Zustände extremer Sicherheit.

Wer noch weiter zurückblickt, findet dort kein schöneres Bild. Kalorienmangel sei in prähistorischer Zeit die Regel gewesen, berichtet etwa der Harvard Anthropologe Richard Wrangham. Knochenfunde zeigen, dass lange Hungerphasen fester Bestandteil des menschlichen Daseins waren. Erst mit Erfindung des Ackerbaus verringerten sich die Perioden des Mangels. Zugleich nahm die Qualitätssteigerung Schwung auf. Durch Zucht und Selektion sorgten die Menschen dafür, dass Nahrungspflanzen nicht nur wachsende Erträge abwarfen, sondern auch bekömmlicher wurden – bis heute. Obst oder Gemüse aus dem Supermarkt, so argumentiert Wrangham, enthalte weniger unverdauliche Fasern und mehr Nährstoffe als die wilden Vorfahren der Früchte. In diesen Lebensmitteln stecken auch weniger natürliche toxische Stoffe als einst.

Trotz all dem sehnen viele Konsumenten eine verlorene Zeit herbei, die es so niemals gegeben hat. Während wir satt auf dem Sofa sitzen, haben die Pessimisten Konjunktur: drastische Warnungen, garniert mit Versprechungen für ein besseres Leben, garantieren Aufmerksamkeit. Die einen ernennen Weizen zum puren Gift, die anderen Zucker; und rund um Milch tobt ein ebenso erstaunlicher wie erbitterter Kulturkampf. Und alle argumentieren sie auf die gleiche Weise: Diese Lebensmittel entsprächen nicht den natürlichen Bedürfnissen des Menschen, seien künstlich hergestellt und machten krank. So klingen die Ängste satter Menschen.

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