Ich bin nun 26 Jahre alt, und wenn man mich fragt, wie ich nach Deutschland gekommen bin, dann sage ich nur kurz, mein Vater habe hier schon lange gelebt. Das sage ich und alles scheint damit geklärt. Doch als ich mich neulich mit einem Freund über die prekäre Lage von Flüchtlingen in Deutschland unterhielt, spürte ich doch den Drang danach, jenem Freund erzählen zu müssen, dass ich selbst lange Zeit in einem Flüchtlingsheim gewohnt habe. Um genau zu sein, sogar in mehreren. Der Freund von mir sagte: "Wir kennen uns nun acht Jahre, aber du hast mir das noch nie erzählt." Es kam ihm so vor, als wäre das ein großes Geheimnis, das ich hüte. Dabei sehe ich es nicht so, aber angesichts der Tatsache, dass Asylpolitik derzeit überall diskutiert wird und ich in einem Bundesland wohne, wo besonders das Thema Asylpolitik die Gemüter erhitzt, habe ich für seine Reaktion doch Verständnis.
Nur ändert das jetzt was daran, bin ich in seinen Augen nun eine andere Person? Ich glaube, ich hab es nie erwähnt, weil ich, irgendwo zwischen Studium und Abschluss, ein "gutes" und "sicheres" Leben habe.
Von meiner Familie muss niemand mehr hungern, niemand bekommt mehr Kleidung von Caritas und Essenspakete mit kleinen Plastikdosen mit Konfitüre und Nutella, Zwiebeln und Obst, die man sonst immer in Krankenhäusern oder Frühstücksbuffets findet. Die Pasteten waren für uns damals nicht wirklich schmackhaft, auch die Packung Bauernbrot kannten wir damals nicht. Und es hatte sich schnell herumgesprochen, wo man den billigsten Reiskocher kaufen konnte.
Es ist eben nur ein Teil meiner Vergangenheit und doch fällt mir auf, ich wollte einfach nur normal sein, wie die anderen Kinder. Bloß nicht auffallen. Manchmal gab es viel Papierkram mit dem Amt wegen der Residenzpflicht, wenn Schulausflüge außerhalb meines von Beamten festgelegten "Bereichs" geplant waren. Ich denke, ich habe das mit dem "Eingesperrtsein" nicht so sehr gespürt, wie meine Mutter, die oft weinte, wenn sie meine Oma von einer Telefonzelle aus anrief. Wir konnten ja mit der Duldung nirgendshin. Umso öfter mussten wir zum Ausländeramt unseres Vertrauens.
Doch ich musste ja nicht frieren und war ausgemergelt, ich habe ja nicht im Ghetto gewohnt, nur in mehreren Flüchtlingsheimen. Und da haben eben viele Nationen auf engstem Raum gewohnt. Jeder hat sich damit zurechtgefunden. Manche verschwanden und kamen nie wieder, doch dass sie abgeschoben wurden, das habe ich damals als Kind noch nicht verstehen können. Die meisten aber blieben und manche zogen mit uns in die nächste Unterbringung.
Ich brachte nie Freunde mit nach Hause, weil meine Mutter meinte, das mit dem Besuch sei schwierig. Auch das mit dem Übernachten bei Freunden ginge auch nicht, der Pförtner würde das mitbekommen. So sollte ich damit warten, bis ich ein eigenes Kinderzimmer bekomme und wir nicht zu dritt in einem Bett schlafen müssen. Mit zwei kleinen Kindern ging das noch.
Zu sagen, dass ich eine ganze Weile mit meiner Mutter, meiner Schwester, zwei Hochbetten und einem Spind, anfangs sogar auch mit fremden Personen aus anderen Ländern auf 13 qm gewohnt habe, kommt es mir sehr surreal vor, erst recht, wenn ich mir heute mein 22 qm großes Zimmer anschaue.
Ich erinner mich noch relativ gut, es war die Zeit des Bosnienkriegs. Die Flüchtlingsheime waren von vielen Bosniern bewohnt. Für mich waren es meine Freunde, mit denen wir bosnische Süßigkeiten aßen. Ich habe auch mal auf Bosnisch zählen gelernt, aber das kann ich jetzt nicht mehr. Manchmal frage ich mich, was aus meinen Freunden geworden ist.
Ich habe noch das Foto vor Augen, auf dem wir Fasching mit all den anderen Kindern in unserem Gemeinschaftsraum feierten. Ich trug eine Maske aus einem Pappteller, neben mir meine Schwester einem weißen Papiersack, den wir bunt anmalten. Wir hatten nicht viel, noch nicht mal richtig Deutsch konnten wir zu dem Zeitpunkt. Dafür haben uns die Sozialarbeiter stets eine schöne Zeit beschert, indem sie uns beibrachten, was Weihnachten, Fasching und sonstiges deutsches Brauchtum ist. Nicht nur Deutsch, sondern auch Fahrrad fahren habe ich mit ihnen gelernt. Weil um unsere Wohncontainer keine gepflasterten Weg waren, war es immer sehr steinig. Gerne würde ich ihnen danke sagen, wenn ich noch ihre Namen wüsste.
Wir haben noch sehr viele befreundete Familien aus dieser Zeit. Das ist ja jetzt schon mehr als zwanzig Jahre her. Doch jedes Jahr feiern wir zusammen Weihnachten und wissen, dass Weihnachten ein Fest der Familie ist, weil unsere Familien nun mal weit weg waren. Viele Pärchen haben sich in diesen Heimen kennengelernt, geheiratet und haben Kinder bekommen. Manche verstarben zwischenzeitlich und es ist selbstverständlich auch zu deren Beerdigung zu erscheinen und ihnen zu gedenken. Das Kapitel „Flüchtlingsheim“ eint uns wohl doch mehr als wir es uns zugestehen wollen.
Ich habe mich bisher nie damit auseinandergesetzt, weil ich dachte, das ist normal, dass ein Kind im Flüchtlingsheim aufwächst, aber erst als ich Menschen kennengelernt habe, die es nicht in Ordnung finden, dass Menschen in alten Kasernen, Schulen oder auch Containern untergebracht werden, da habe ich ein wenig Scham empfunden.
Es ist ebenso nicht in Ordnung, dass Essensmarken verteilt werden und Menschen sich nicht frei bewegen dürfen und ich habe das Gefühl, dass ich derzeit in einem Land lebe, wo es Menschen gibt, die sich gegen Flüchtlingsheime aussprechen, nicht davor zurückschrecken würden, mit Fackeln vor diese Heime zu treten. Wie damals in Rostock-Lichtenhagen.
Auch wenn ich nicht mehr in einem dieser Heime leben muss, so verspüre ich leichte Angst. Etwa so, als ich begann jemanden von meiner Vergangenheit zu erzählen.