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Mit aller Gewalt

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Die Prioritäten sind klar, es geht zunächst einmal um Fallhöhe: Denn der Mann, der jetzt in Johannesburg wegen Mordes vor Gericht steht, war ein nationaler Superheld – als Repräsentant seines Landes in der Welt „konnten es nur Leute wie Nelson Mandela mit ihm aufnehmen“. So wirbt allen Ernstes ein südafrikanischer Fernsehsender vorab für seine Live-Übertragung des Prozesses gegen Oscar Pistorius, der an diesem Montag beginnt. So viel Aufmerksamkeit hat in der jüngeren Geschichte des Landes noch kein Gerichtsverfahren bekommen. Es geht um die Frage: Wird ein nationales Idol als Mörder entlarvt? Und was sagt die Tat über das Verhältnis der südafrikanischen Gesellschaft zur Gewalt aus?



Der Fall des Paralympics-Star Pistorius erregt Südafrika

Dass der beidseitig beinamputierte Olympia-Athlet Oscar Pistorius seine Freundin, das Model Reeva Steenkamp, in der Nacht zum 14. Februar 2013 in seinem eigenen Haus durch die geschlossene Badezimmertür erschossen hat, steht außer Frage, das hat er längst zugegeben. Zu klären ist aber: Tat er es in voller Absicht, etwa nach einem Streit? Oder dachte er tatsächlich, wie er behauptet, dass sich hinter der verschlossenen Tür ein bewaffneter Einbrecher befand? Läuft es also auf lebenslange Haft hinaus – oder möglicherweise nur auf eine Bewährungsstrafe?

Der Chefankläger hat angekündigt, mindestens fünf Zeugen zu präsentieren, die rund um den Tatzeitpunkt Schreie gehört haben wollen – was dafür spräche, dass der Sportler Steenkamp mit vollem Vorsatz ermordet hat. Ein von der Staatsanwaltschaft bestellter Ballistik-Experte hat allerdings bereits festgestellt, dass – nach dem Schusswinkel zu urteilen – Pistorius offenbar seine Beinprothesen nicht trug, als er durch die Tür feuerte. Das stützt seine eigene Aussage, er sei in Panik auf seinen Stümpfen in Richtung Badezimmer gehumpelt und habe sich die Prothesen erst später angeschnallt. Um Indizien dieser Art wird es im Laufe des Prozesses hauptsächlich gehen, denn der einzige noch lebende Augenzeuge ist Pistorius selbst.

Wer den öffentlichen Rummel im Vorfeld des Prozesses erlebt, könnte den Eindruck gewinnen, es gebe in Südafrika, das in zwei Monaten zum ersten Mal seit dem Tod von Nelson Mandela an die Wahlurnen gehen wird, kein drängenderes Thema. Pistorius selbst hat eine US-amerikanische Forensik-Firma damit beauftragt, den Tathergang per 3D-Animation zu rekonstruieren. Ähnliches hatten diverse internationale Medien schon im Vorfeld erstellt, man kann längst im Internet virtuell den Tatort abspazieren. Und der südafrikanische Programmanbieter MultiChoice wird auf einem eigens dafür eingerichteten neuen Kanal rund um die Uhr über den Prozess berichten. In den vergangenen Tagen sind wieder allerlei Details über das Leben des gefallenen Helden an die Oberfläche geschwemmt worden, die zum Teil allerdings nur bedingt aussagekräftig für das eigentliche Verfahren sein dürften: zum Beispiel, dass er kurz vor der Tat Pornos angeschaut haben soll.

In einem Büro in der Innenstadt von Johannesburg sitzt eine Frau, die das Spektakel um den anstehenden Prozess mit Skepsis verfolgt: Delphine Sarumaga, Vorsitzende des „Centre for the Study of Violence and Reconciliation“. Sie ist eine der gefragtesten Stimmen des Landes, wenn es um die Ursachen und Folgen von Gewalt geht, die Macher des Pistorius-Kanals hätten sie gern als Expertin für Livegespräche am Rande der Prozess-Übertragung eingespannt, aber sie lehnte ab: „Für uns ist nicht die Frage interessant, ob Pistorius schuldig ist oder nicht“, sagt sie. „Uns geht es um die tiefer liegenden gesellschaftlichen Muster, die ein solcher Fall offenbart. Das aber wäre für die Fernsehleute zu langweilig geworden.“

Für Sarumaga wirft der Fall viele grundsätzliche Fragen auf: Pistorius lebte in einer sogenannten Gated Community, mehrfach gesichert und bewacht – warum hielt er es trotzdem für nötig, eine Waffe zu besitzen? Wovor meinte er, sich schützen zu müssen? „Und selbst wenn er tatsächlich glaubte, im Badezimmer befinde sich ein Einbrecher: Woher kommt diese Überzeugung, dass es in Ordnung sei, denjenigen zu töten, auch wenn man nicht unmittelbar von ihm bedroht wird?“

Zugleich, sagt Serumaga, gebe es in Südafrika etliche Beispiele extremer Gewalt, deren Opfer weniger prominent sind als Pistorius und Steenkamp – und die entsprechend kaum Aufsehen erregen. Im Januar etwa wurde in der Provinz Western Cape ein neunjähriges Mädchen vergewaltigt und anschließend in Brand gesteckt: „Solche Fälle flackern kurz in den Medien auf und verschwinden dann wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung.“

Vielen Südafrikanern geht das Spektakel um den Fall Pistorius denn auch schon seit längerem auf die Nerven: Eine junge Frau, die nur bei ihrem Vornamen Michelle genannt werden will, um ihren Job nicht zu gefährden, steht mit Tablett und Schürze vor dem Café in Johannesburg, in dem sie arbeitet, und sagt mit gesenkter Stimme: „Ja, das ist eine tragische Geschichte. Aber es ist nur eine weitere Geschichte von einer reichen weißen Frau, die von ihrem reichen weißen Freund getötet wurde.“ Sie selbst musste aus Geldmangel ihr Studium abbrechen, und der Job als Kellnerin, sagt sie mit noch leiserer Stimme, bringe ihr kaum genug Geld, um die Schulgebühren für ihre Tochter zu bezahlen. „Wir haben ganz andere Sorgen. Wir brauchen Strom, Wasser, Bildung, Jobs. Das sind die Probleme unseres Landes.“

Für die Gewaltforscherin Delphine Serumaga hängen diese Probleme allerdings durchaus mit dem Fall Pistorius zusammen: „Die Tat wirft ein Schlaglicht darauf, wie groß offenbar die Ängste der Reichen in diesem Land sind – vor den etlichen Armen, Schwarzen, die ihnen, so die Vorstellung, mit allen nur erdenklichen Mitteln ihren Reichtum wegnehmen wollen.“

Im besten Fall, so hofft Serumaga, könnte der Prozess zumindest eine politische Debatte anstoßen, über die gewaltige Kluft zwischen Arm und Reich, über die Selbstverständlichkeit des Besitzes scharfer Waffen, über das vielfache Versagen von Polizei und Justiz bei der Verfolgung von Gewalttaten. Im schlechtesten Fall aber, und den hält sie für wahrscheinlicher, wird der Prozess nur viel Geld, Zeit und Aufmerksamkeit verschlingen, die – in einer politisch heiklen Phase des Landes – für die wirklich wichtigen Debatten verloren geht.

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